Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 3. Berlin, 1783.
Jch will einige Skizzen unserer Unterredungen hersetzen, der Leser mag denn urtheilen, ob ich zu viel gesagt habe. Einst hatte ich mit seinen ältern Geschwistern, von den Freuden des künftigen Lebens, und sonderlich vom Wiedersehen unserer verstorbenen Freunde gesprochen, wobei er sehr aufmerksam zugehört hatte. Nach der Stunde blieb er bei mir, und hob folgendes Gespräch an: Philipp. Das ist doch herrlich, daß ich meinen seligen Vater wiedersehen werde! Aber er wird mich doch nicht mehr kennen, wenn ich in den Himmel komme; er wird mirs doch nicht mehr ansehn können, daß ich sein Philipp bin! "Warum nicht? Phil. Jch werde noch lange leben, und dann werde ich so alt und krumm, wie der alte Schiele, und kriege auch solche Runzeln im Gesicht; woran soll er mich dann kennen? "Willst Du denn Deinen Körper mit in den Himmel nehmen, wenn Du stirbst? Phil. Nein, das kann ich nicht; wenn man todt ist, wird der Leib begraben.
Jch will einige Skizzen unserer Unterredungen hersetzen, der Leser mag denn urtheilen, ob ich zu viel gesagt habe. Einst hatte ich mit seinen aͤltern Geschwistern, von den Freuden des kuͤnftigen Lebens, und sonderlich vom Wiedersehen unserer verstorbenen Freunde gesprochen, wobei er sehr aufmerksam zugehoͤrt hatte. Nach der Stunde blieb er bei mir, und hob folgendes Gespraͤch an: Philipp. Das ist doch herrlich, daß ich meinen seligen Vater wiedersehen werde! Aber er wird mich doch nicht mehr kennen, wenn ich in den Himmel komme; er wird mirs doch nicht mehr ansehn koͤnnen, daß ich sein Philipp bin! »Warum nicht? Phil. Jch werde noch lange leben, und dann werde ich so alt und krumm, wie der alte Schiele, und kriege auch solche Runzeln im Gesicht; woran soll er mich dann kennen? »Willst Du denn Deinen Koͤrper mit in den Himmel nehmen, wenn Du stirbst? Phil. Nein, das kann ich nicht; wenn man todt ist, wird der Leib begraben. <TEI> <text> <body> <div> <div> <p><pb facs="#f0119" n="115"/><lb/> eine gehoͤrte Geschichte, oder uͤber einen in den Lectionen nur halb gefaßten Satz zu unterhalten; und diese Privatunterredungen gewaͤhrten mir oͤfters die herzlichste Freude, denn er weiß sich, fuͤr seine Jahre, schon ziemlich bestimmt auszudruͤcken, und seine Fragen fuͤhren nicht selten auf sehr ernste Materien. </p> <p>Jch will einige Skizzen unserer Unterredungen hersetzen, der Leser mag denn urtheilen, ob ich zu viel gesagt habe. </p> <p>Einst hatte ich mit seinen aͤltern Geschwistern, von den Freuden des kuͤnftigen Lebens, und sonderlich vom Wiedersehen unserer verstorbenen Freunde gesprochen, wobei er sehr aufmerksam zugehoͤrt hatte. Nach der Stunde blieb er bei mir, und hob folgendes Gespraͤch an: </p> <p><hi rendition="#b">Philipp.</hi> Das ist doch herrlich, daß ich meinen seligen Vater wiedersehen werde! Aber er wird mich doch nicht mehr kennen, wenn ich in den Himmel komme; er wird mirs doch nicht mehr ansehn koͤnnen, daß ich sein Philipp bin! </p> <p>»Warum nicht? </p> <p><hi rendition="#b">Phil.</hi> Jch werde noch lange leben, und dann werde ich so alt und krumm, wie der alte Schiele, und kriege auch solche Runzeln im Gesicht; woran soll er mich dann kennen? </p> <p>»Willst Du denn Deinen Koͤrper mit in den Himmel nehmen, wenn Du stirbst? </p> <p><hi rendition="#b">Phil.</hi> Nein, das kann ich nicht; wenn man todt ist, wird der Leib begraben. </p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [115/0119]
eine gehoͤrte Geschichte, oder uͤber einen in den Lectionen nur halb gefaßten Satz zu unterhalten; und diese Privatunterredungen gewaͤhrten mir oͤfters die herzlichste Freude, denn er weiß sich, fuͤr seine Jahre, schon ziemlich bestimmt auszudruͤcken, und seine Fragen fuͤhren nicht selten auf sehr ernste Materien.
Jch will einige Skizzen unserer Unterredungen hersetzen, der Leser mag denn urtheilen, ob ich zu viel gesagt habe.
Einst hatte ich mit seinen aͤltern Geschwistern, von den Freuden des kuͤnftigen Lebens, und sonderlich vom Wiedersehen unserer verstorbenen Freunde gesprochen, wobei er sehr aufmerksam zugehoͤrt hatte. Nach der Stunde blieb er bei mir, und hob folgendes Gespraͤch an:
Philipp. Das ist doch herrlich, daß ich meinen seligen Vater wiedersehen werde! Aber er wird mich doch nicht mehr kennen, wenn ich in den Himmel komme; er wird mirs doch nicht mehr ansehn koͤnnen, daß ich sein Philipp bin!
»Warum nicht?
Phil. Jch werde noch lange leben, und dann werde ich so alt und krumm, wie der alte Schiele, und kriege auch solche Runzeln im Gesicht; woran soll er mich dann kennen?
»Willst Du denn Deinen Koͤrper mit in den Himmel nehmen, wenn Du stirbst?
Phil. Nein, das kann ich nicht; wenn man todt ist, wird der Leib begraben.
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(2015-06-09T11:00:00Z)
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Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat
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