Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 2. Berlin, 1783.
Der Maaßstab, nach dem sich die Vorstellungen körperlicher Größen bilden, ist unser eigener Körper, je kleiner dieser ist, um desto größer müssen uns alle Gegenstände vorkommen. So wie wir größer werden verkleinern sich zwar allmälig die Vorstellungen von der Größe der uns umgebenden Gegenstände, und selbst von denen, deren wir uns nur erinnern, (denn sonst müßten alle unsere Erinnerungen aus dem kindischen Alter Riesengestalten seyn): aber gewöhnlich verkleinern wir die letztern doch nicht so sehr, daß sie mit denen uns umgebenden Körpern in gleiches Verhältniß kämen. Jch glaube, es wird nicht leicht jemand seyn, der nicht die Beobachtung gemacht hätte, daß wenn man in den Jahren des Wachsthums, nach einer langen Abwesenheit, an einen Ort zurückkommt, man die Fenster, Thüren, Tische und alle Gegenstände immer kleiner findet, als sie in der Erinnerung waren. Wie oft hört man sagen: "als ich noch in den untern Klassen der Schule war, saßen ganz andere Leute als jetzt in der obersten Klasse". Was mir am merkwürdigsten bey den Erinnerungen aus meiner Kindheit vorkommt, ist dieses: daß überall die Vorstellungen von Figuren und Gestalten sich unauslöschlich eingeprägt haben, die Erinnerungen an Farben aber so dunkel und unge-
Der Maaßstab, nach dem sich die Vorstellungen koͤrperlicher Groͤßen bilden, ist unser eigener Koͤrper, je kleiner dieser ist, um desto groͤßer muͤssen uns alle Gegenstaͤnde vorkommen. So wie wir groͤßer werden verkleinern sich zwar allmaͤlig die Vorstellungen von der Groͤße der uns umgebenden Gegenstaͤnde, und selbst von denen, deren wir uns nur erinnern, (denn sonst muͤßten alle unsere Erinnerungen aus dem kindischen Alter Riesengestalten seyn): aber gewoͤhnlich verkleinern wir die letztern doch nicht so sehr, daß sie mit denen uns umgebenden Koͤrpern in gleiches Verhaͤltniß kaͤmen. Jch glaube, es wird nicht leicht jemand seyn, der nicht die Beobachtung gemacht haͤtte, daß wenn man in den Jahren des Wachsthums, nach einer langen Abwesenheit, an einen Ort zuruͤckkommt, man die Fenster, Thuͤren, Tische und alle Gegenstaͤnde immer kleiner findet, als sie in der Erinnerung waren. Wie oft hoͤrt man sagen: »als ich noch in den untern Klassen der Schule war, saßen ganz andere Leute als jetzt in der obersten Klasse«. Was mir am merkwuͤrdigsten bey den Erinnerungen aus meiner Kindheit vorkommt, ist dieses: daß uͤberall die Vorstellungen von Figuren und Gestalten sich unausloͤschlich eingepraͤgt haben, die Erinnerungen an Farben aber so dunkel und unge- <TEI> <text> <body> <div> <div> <p><pb facs="#f0089" n="85"/><lb/> den und Vergleichungen, daß ich mir alles <hi rendition="#b">zu groß</hi> vorgestellt hatte. Das kann auch nicht anders seyn. </p> <p>Der Maaßstab, nach dem sich die Vorstellungen koͤrperlicher Groͤßen bilden, ist unser eigener Koͤrper, je kleiner dieser ist, um desto groͤßer muͤssen uns alle Gegenstaͤnde vorkommen. </p> <p>So wie wir groͤßer werden verkleinern sich zwar allmaͤlig die Vorstellungen von der Groͤße der uns umgebenden Gegenstaͤnde, und selbst von denen, deren wir uns nur erinnern, (denn sonst muͤßten alle unsere Erinnerungen aus dem kindischen Alter Riesengestalten seyn): aber gewoͤhnlich verkleinern wir die letztern doch nicht so sehr, daß sie mit denen uns umgebenden Koͤrpern in gleiches Verhaͤltniß kaͤmen. </p> <p>Jch glaube, es wird nicht leicht jemand seyn, der nicht die Beobachtung gemacht haͤtte, daß wenn man in den Jahren des Wachsthums, nach einer langen Abwesenheit, an einen Ort zuruͤckkommt, man die Fenster, Thuͤren, Tische und alle Gegenstaͤnde immer kleiner findet, als sie in der Erinnerung waren. Wie oft hoͤrt man sagen: »als ich noch in den untern Klassen der Schule war, saßen ganz andere Leute als jetzt in der obersten Klasse«. </p> <p>Was mir am merkwuͤrdigsten bey den Erinnerungen aus meiner Kindheit vorkommt, ist dieses: daß uͤberall die Vorstellungen von <hi rendition="#b">Figuren</hi> und <hi rendition="#b">Gestalten</hi> sich unausloͤschlich eingepraͤgt haben, die Erinnerungen an <hi rendition="#b">Farben</hi> aber so dunkel und unge-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [85/0089]
den und Vergleichungen, daß ich mir alles zu groß vorgestellt hatte. Das kann auch nicht anders seyn.
Der Maaßstab, nach dem sich die Vorstellungen koͤrperlicher Groͤßen bilden, ist unser eigener Koͤrper, je kleiner dieser ist, um desto groͤßer muͤssen uns alle Gegenstaͤnde vorkommen.
So wie wir groͤßer werden verkleinern sich zwar allmaͤlig die Vorstellungen von der Groͤße der uns umgebenden Gegenstaͤnde, und selbst von denen, deren wir uns nur erinnern, (denn sonst muͤßten alle unsere Erinnerungen aus dem kindischen Alter Riesengestalten seyn): aber gewoͤhnlich verkleinern wir die letztern doch nicht so sehr, daß sie mit denen uns umgebenden Koͤrpern in gleiches Verhaͤltniß kaͤmen.
Jch glaube, es wird nicht leicht jemand seyn, der nicht die Beobachtung gemacht haͤtte, daß wenn man in den Jahren des Wachsthums, nach einer langen Abwesenheit, an einen Ort zuruͤckkommt, man die Fenster, Thuͤren, Tische und alle Gegenstaͤnde immer kleiner findet, als sie in der Erinnerung waren. Wie oft hoͤrt man sagen: »als ich noch in den untern Klassen der Schule war, saßen ganz andere Leute als jetzt in der obersten Klasse«.
Was mir am merkwuͤrdigsten bey den Erinnerungen aus meiner Kindheit vorkommt, ist dieses: daß uͤberall die Vorstellungen von Figuren und Gestalten sich unausloͤschlich eingepraͤgt haben, die Erinnerungen an Farben aber so dunkel und unge-
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 2. Berlin, 1783, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0102_1783/89>, abgerufen am 27.07.2024. |