Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 2. Berlin, 1783.
Jhr Mann, ein sehr vernünftiger Mann, der sie zugleich ungemein zärtlich liebte, stellte ihrem Vorgeben mancherlei Gründe entgegen, wie niemand sein Ende wissen könne, und sich nicht vor der Zeit unnöthigen Kummer machen müsse u.d.m., allein man konnte ihr diese Meinung nicht aus dem Sinne reden -- Genug sie fühlte sich einige Monathe darauf würklich in andern Umständen und dachte also auch desto lebhafter an ihr Ende. Sehr oft fand ihr Mann, wenn er von seinen Geschäften nach Hause kam, sie in Sterbensbetrachtungen vertieft, sehr oft auch in vielen Thränen, die sie jedoch nicht eigentlich wegen ihres, wie sie glaubte, bevorstehenden Todes willen vergoß, sondern vielmehr um einiger Gewissensangelegenheiten willen, die ihr beständigen Kummer verursachten. Sie ward hierauf würklich im vergangnen Monath Januar gerade zu derselben Zeit, ja an diesem Tage entbunden, an welchem ihr Kind voriges Jahr gestorben war -- Doch lebte dies Kind auch nur einige Wochen, worüber sich indeß die Mutter gar nicht betrübte, weil es ihrem Manne, wie sie sagte, nur eine desto größre Last seyn würde. Uebrigens war die Geburt, wenn auch schwer, doch glück-
Jhr Mann, ein sehr vernuͤnftiger Mann, der sie zugleich ungemein zaͤrtlich liebte, stellte ihrem Vorgeben mancherlei Gruͤnde entgegen, wie niemand sein Ende wissen koͤnne, und sich nicht vor der Zeit unnoͤthigen Kummer machen muͤsse u.d.m., allein man konnte ihr diese Meinung nicht aus dem Sinne reden — Genug sie fuͤhlte sich einige Monathe darauf wuͤrklich in andern Umstaͤnden und dachte also auch desto lebhafter an ihr Ende. Sehr oft fand ihr Mann, wenn er von seinen Geschaͤften nach Hause kam, sie in Sterbensbetrachtungen vertieft, sehr oft auch in vielen Thraͤnen, die sie jedoch nicht eigentlich wegen ihres, wie sie glaubte, bevorstehenden Todes willen vergoß, sondern vielmehr um einiger Gewissensangelegenheiten willen, die ihr bestaͤndigen Kummer verursachten. Sie ward hierauf wuͤrklich im vergangnen Monath Januar gerade zu derselben Zeit, ja an diesem Tage entbunden, an welchem ihr Kind voriges Jahr gestorben war — Doch lebte dies Kind auch nur einige Wochen, woruͤber sich indeß die Mutter gar nicht betruͤbte, weil es ihrem Manne, wie sie sagte, nur eine desto groͤßre Last seyn wuͤrde. Uebrigens war die Geburt, wenn auch schwer, doch gluͤck- <TEI> <text> <body> <div> <div> <p><pb facs="#f0083" n="79"/><lb/> damals hatte sie gesagt, daß sie dies Kind nicht lange uͤberleben wuͤrde. Aufs folgende Jahr wuͤrde sie im Monath Januar wieder entbunden werden und in diesen Sechswochen wuͤrde sie sterben. </p> <p>Jhr Mann, ein sehr vernuͤnftiger Mann, der sie zugleich ungemein zaͤrtlich liebte, stellte ihrem Vorgeben mancherlei Gruͤnde entgegen, wie niemand sein Ende wissen koͤnne, und sich nicht vor der Zeit unnoͤthigen Kummer machen muͤsse u.d.m., allein man konnte ihr diese Meinung nicht aus dem Sinne reden — Genug sie fuͤhlte sich einige Monathe darauf wuͤrklich in andern Umstaͤnden und dachte also auch desto lebhafter an ihr Ende. </p> <p>Sehr oft fand ihr Mann, wenn er von seinen Geschaͤften nach Hause kam, sie in Sterbensbetrachtungen vertieft, sehr oft auch in vielen Thraͤnen, die sie jedoch nicht eigentlich wegen ihres, wie sie glaubte, bevorstehenden Todes willen vergoß, sondern vielmehr um einiger Gewissensangelegenheiten willen, die ihr bestaͤndigen Kummer verursachten. </p> <p>Sie ward hierauf wuͤrklich im vergangnen Monath Januar gerade zu derselben Zeit, ja an diesem Tage entbunden, an welchem ihr Kind voriges Jahr gestorben war — Doch lebte dies Kind auch nur einige Wochen, woruͤber sich indeß die Mutter gar nicht betruͤbte, weil es ihrem Manne, wie sie sagte, nur eine desto groͤßre Last seyn wuͤrde. Uebrigens war die Geburt, wenn auch schwer, doch gluͤck-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [79/0083]
damals hatte sie gesagt, daß sie dies Kind nicht lange uͤberleben wuͤrde. Aufs folgende Jahr wuͤrde sie im Monath Januar wieder entbunden werden und in diesen Sechswochen wuͤrde sie sterben.
Jhr Mann, ein sehr vernuͤnftiger Mann, der sie zugleich ungemein zaͤrtlich liebte, stellte ihrem Vorgeben mancherlei Gruͤnde entgegen, wie niemand sein Ende wissen koͤnne, und sich nicht vor der Zeit unnoͤthigen Kummer machen muͤsse u.d.m., allein man konnte ihr diese Meinung nicht aus dem Sinne reden — Genug sie fuͤhlte sich einige Monathe darauf wuͤrklich in andern Umstaͤnden und dachte also auch desto lebhafter an ihr Ende.
Sehr oft fand ihr Mann, wenn er von seinen Geschaͤften nach Hause kam, sie in Sterbensbetrachtungen vertieft, sehr oft auch in vielen Thraͤnen, die sie jedoch nicht eigentlich wegen ihres, wie sie glaubte, bevorstehenden Todes willen vergoß, sondern vielmehr um einiger Gewissensangelegenheiten willen, die ihr bestaͤndigen Kummer verursachten.
Sie ward hierauf wuͤrklich im vergangnen Monath Januar gerade zu derselben Zeit, ja an diesem Tage entbunden, an welchem ihr Kind voriges Jahr gestorben war — Doch lebte dies Kind auch nur einige Wochen, woruͤber sich indeß die Mutter gar nicht betruͤbte, weil es ihrem Manne, wie sie sagte, nur eine desto groͤßre Last seyn wuͤrde. Uebrigens war die Geburt, wenn auch schwer, doch gluͤck-
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