Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 2. Berlin, 1783.
Wäre es nicht nützlich, vielleicht nothwendig, auch hierüber Gesetze zu geben? Sieht der Staat die jungen Menschen als ein Staatsprodukt an; beurtheilt sie der Theologe als Pflanzen, die der Ewigkeit entgegenreifen; so kann es nicht gleichgültig seyn, zu welcher Jahrszeit sie hervorgebracht, unter welchen Umständen sie ins Daseyn versetzt wurden. Was wird aus der gepriesenen Moralität, was aus den Kompendien der Kriminalisten, wenn der Keim meiner Thorheiten in dem Moment der Zeugung meines trunknen Vaters gelegt wurde? Und ist das, was wir Seele nennen, nur im geringsten Verstande materiell, was ist dann gewisser als dieses? Daß es nicht nur moralische Aerzte geben kann, sondern dergleichen gegeben hat, beweisen nicht nur Socrates und Kleinjoch, sondern es hat sicher auch noch mehrere solche Seelenärzte gegeben. Sollte dies aber nicht vorzüglich die Pflicht der Geistlichkeit seyn? Man nannte sie vor Alters wohl nicht so ganz umsonst Seelsorger. Freilich gehörten denn mehrere Kenntnisse dazu, Erfahrung und Umgang mit Menschen von allerlei Ständen, welches so manchen dieser Herrn
Waͤre es nicht nuͤtzlich, vielleicht nothwendig, auch hieruͤber Gesetze zu geben? Sieht der Staat die jungen Menschen als ein Staatsprodukt an; beurtheilt sie der Theologe als Pflanzen, die der Ewigkeit entgegenreifen; so kann es nicht gleichguͤltig seyn, zu welcher Jahrszeit sie hervorgebracht, unter welchen Umstaͤnden sie ins Daseyn versetzt wurden. Was wird aus der gepriesenen Moralitaͤt, was aus den Kompendien der Kriminalisten, wenn der Keim meiner Thorheiten in dem Moment der Zeugung meines trunknen Vaters gelegt wurde? Und ist das, was wir Seele nennen, nur im geringsten Verstande materiell, was ist dann gewisser als dieses? Daß es nicht nur moralische Aerzte geben kann, sondern dergleichen gegeben hat, beweisen nicht nur Socrates und Kleinjoch, sondern es hat sicher auch noch mehrere solche Seelenaͤrzte gegeben. Sollte dies aber nicht vorzuͤglich die Pflicht der Geistlichkeit seyn? Man nannte sie vor Alters wohl nicht so ganz umsonst Seelsorger. Freilich gehoͤrten denn mehrere Kenntnisse dazu, Erfahrung und Umgang mit Menschen von allerlei Staͤnden, welches so manchen dieser Herrn <TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0006" n="2"/><lb/> stande des Vaters und der Mutter im Moment der Zeugung haͤtte. Eine unseelige Scham und verjaͤhrte Vorurtheile huͤllen dergleichen Acte zum Schaden der Fortschritte unsers Erkenntnißvermoͤgens in ewiges Dunkel. </p> <p>Waͤre es nicht nuͤtzlich, vielleicht nothwendig, auch hieruͤber Gesetze zu geben? Sieht der Staat die jungen Menschen als ein Staatsprodukt an; beurtheilt sie der Theologe als Pflanzen, die der Ewigkeit entgegenreifen; so kann es nicht gleichguͤltig seyn, zu welcher Jahrszeit sie hervorgebracht, unter welchen Umstaͤnden sie ins Daseyn versetzt wurden. Was wird aus der gepriesenen Moralitaͤt, was aus den Kompendien der Kriminalisten, wenn der Keim meiner Thorheiten in dem Moment der Zeugung meines trunknen Vaters gelegt wurde? Und ist das, was wir Seele nennen, nur im geringsten Verstande materiell, was ist dann gewisser als dieses? </p> <p>Daß es nicht nur moralische Aerzte geben kann, sondern dergleichen gegeben hat, beweisen nicht nur <hi rendition="#b">Socrates</hi> und <hi rendition="#b">Kleinjoch,</hi> sondern es hat sicher auch noch mehrere solche Seelenaͤrzte gegeben. Sollte dies aber nicht vorzuͤglich die Pflicht der Geistlichkeit seyn? Man nannte sie vor Alters wohl nicht so ganz umsonst Seelsorger. Freilich gehoͤrten denn mehrere Kenntnisse dazu, Erfahrung und Umgang mit Menschen von allerlei Staͤnden, welches so manchen dieser Herrn<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [2/0006]
stande des Vaters und der Mutter im Moment der Zeugung haͤtte. Eine unseelige Scham und verjaͤhrte Vorurtheile huͤllen dergleichen Acte zum Schaden der Fortschritte unsers Erkenntnißvermoͤgens in ewiges Dunkel.
Waͤre es nicht nuͤtzlich, vielleicht nothwendig, auch hieruͤber Gesetze zu geben? Sieht der Staat die jungen Menschen als ein Staatsprodukt an; beurtheilt sie der Theologe als Pflanzen, die der Ewigkeit entgegenreifen; so kann es nicht gleichguͤltig seyn, zu welcher Jahrszeit sie hervorgebracht, unter welchen Umstaͤnden sie ins Daseyn versetzt wurden. Was wird aus der gepriesenen Moralitaͤt, was aus den Kompendien der Kriminalisten, wenn der Keim meiner Thorheiten in dem Moment der Zeugung meines trunknen Vaters gelegt wurde? Und ist das, was wir Seele nennen, nur im geringsten Verstande materiell, was ist dann gewisser als dieses?
Daß es nicht nur moralische Aerzte geben kann, sondern dergleichen gegeben hat, beweisen nicht nur Socrates und Kleinjoch, sondern es hat sicher auch noch mehrere solche Seelenaͤrzte gegeben. Sollte dies aber nicht vorzuͤglich die Pflicht der Geistlichkeit seyn? Man nannte sie vor Alters wohl nicht so ganz umsonst Seelsorger. Freilich gehoͤrten denn mehrere Kenntnisse dazu, Erfahrung und Umgang mit Menschen von allerlei Staͤnden, welches so manchen dieser Herrn
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 2. Berlin, 1783, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0102_1783/6>, abgerufen am 27.07.2024. |