Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 2. Berlin, 1783.
Bisher hatte er immer ein freyes unabhängiges Leben geführt, jetzt kam er in ein Verhältniß mit Obern, und ihm ward bisweilen widersprochen, dies kränkte seinen Stolz, der nur gewohnt war, Beifall zu hören, zuletzt überredete er sich, daß die Widersprüche nur aus Feindschaft kämen, er dachte diesen Gedanken so lange, wuste jeden Umstand so lange zu drehen, bis er endlich eine Wahrscheinlichkeit herausbrachte, die denn bei ihm bald zur Gewißheit stieg. Wäre er ein weniger nachdenkender Kopf gewesen, so würden die Folgen für ihn nicht so nachtheilig gewesen seyn, aber zum scharfen Nachdenken gewohnt, gewohnt Schlüsse auf Schlüsse zu bauen, und so jede Sache bis auf ihre äusserste Wirkung zu verfolgen, dachte er sich auch hier die Feindschaft seines Vorgesetzten, dachte sich alles, was jener wohl anwenden könnte, ihm zu schaden, erschrack vor dem Bilde seiner Phantasie, und hielt endlich dies, was blosse Spekulationen waren, für Wirklichkeiten. Nun glaubte er nichts als Verräther und Ausspäher um sich zu haben, entzog sich allem Umgange, weil er alle für Feinde hielt. Mit der äussersten Unruhe ging er ins Kollegium, überdachte, wenn er zu Hause kam, jedes Wort, was gesprochen, jede Miene, die gemacht
Bisher hatte er immer ein freyes unabhaͤngiges Leben gefuͤhrt, jetzt kam er in ein Verhaͤltniß mit Obern, und ihm ward bisweilen widersprochen, dies kraͤnkte seinen Stolz, der nur gewohnt war, Beifall zu hoͤren, zuletzt uͤberredete er sich, daß die Widerspruͤche nur aus Feindschaft kaͤmen, er dachte diesen Gedanken so lange, wuste jeden Umstand so lange zu drehen, bis er endlich eine Wahrscheinlichkeit herausbrachte, die denn bei ihm bald zur Gewißheit stieg. Waͤre er ein weniger nachdenkender Kopf gewesen, so wuͤrden die Folgen fuͤr ihn nicht so nachtheilig gewesen seyn, aber zum scharfen Nachdenken gewohnt, gewohnt Schluͤsse auf Schluͤsse zu bauen, und so jede Sache bis auf ihre aͤusserste Wirkung zu verfolgen, dachte er sich auch hier die Feindschaft seines Vorgesetzten, dachte sich alles, was jener wohl anwenden koͤnnte, ihm zu schaden, erschrack vor dem Bilde seiner Phantasie, und hielt endlich dies, was blosse Spekulationen waren, fuͤr Wirklichkeiten. Nun glaubte er nichts als Verraͤther und Ausspaͤher um sich zu haben, entzog sich allem Umgange, weil er alle fuͤr Feinde hielt. Mit der aͤussersten Unruhe ging er ins Kollegium, uͤberdachte, wenn er zu Hause kam, jedes Wort, was gesprochen, jede Miene, die gemacht <TEI> <text> <body> <div> <div> <p><pb facs="#f0012" n="8"/><lb/> Ruf als Rath in ein Kollegium, seine Freunde, die ihn ungerne verloren, riethen ihm, dem Rufe nicht zu folgen, doch Ehrgeitz, der Grundzug seines Karakters, siegte uͤber ihre Vorstellungen. </p> <p>Bisher hatte er immer ein freyes unabhaͤngiges Leben gefuͤhrt, jetzt kam er in ein Verhaͤltniß mit Obern, und ihm ward bisweilen widersprochen, dies kraͤnkte seinen Stolz, der nur gewohnt war, Beifall zu hoͤren, zuletzt uͤberredete er sich, daß die Widerspruͤche nur aus Feindschaft kaͤmen, er dachte diesen Gedanken so lange, wuste jeden Umstand so lange zu drehen, bis er endlich eine Wahrscheinlichkeit herausbrachte, die denn bei ihm bald zur Gewißheit stieg. Waͤre er ein weniger nachdenkender Kopf gewesen, so wuͤrden die Folgen fuͤr ihn nicht so nachtheilig gewesen seyn, aber zum scharfen Nachdenken gewohnt, gewohnt Schluͤsse auf Schluͤsse zu bauen, und so jede Sache bis auf ihre aͤusserste Wirkung zu verfolgen, dachte er sich auch hier die Feindschaft seines Vorgesetzten, dachte sich alles, was jener wohl anwenden koͤnnte, ihm zu schaden, erschrack vor dem Bilde seiner Phantasie, und hielt endlich dies, was blosse Spekulationen waren, fuͤr Wirklichkeiten. Nun glaubte er nichts als Verraͤther und Ausspaͤher um sich zu haben, entzog sich allem Umgange, weil er alle fuͤr Feinde hielt. Mit der aͤussersten Unruhe ging er ins Kollegium, uͤberdachte, wenn er zu Hause kam, jedes Wort, was gesprochen, jede Miene, die gemacht<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [8/0012]
Ruf als Rath in ein Kollegium, seine Freunde, die ihn ungerne verloren, riethen ihm, dem Rufe nicht zu folgen, doch Ehrgeitz, der Grundzug seines Karakters, siegte uͤber ihre Vorstellungen.
Bisher hatte er immer ein freyes unabhaͤngiges Leben gefuͤhrt, jetzt kam er in ein Verhaͤltniß mit Obern, und ihm ward bisweilen widersprochen, dies kraͤnkte seinen Stolz, der nur gewohnt war, Beifall zu hoͤren, zuletzt uͤberredete er sich, daß die Widerspruͤche nur aus Feindschaft kaͤmen, er dachte diesen Gedanken so lange, wuste jeden Umstand so lange zu drehen, bis er endlich eine Wahrscheinlichkeit herausbrachte, die denn bei ihm bald zur Gewißheit stieg. Waͤre er ein weniger nachdenkender Kopf gewesen, so wuͤrden die Folgen fuͤr ihn nicht so nachtheilig gewesen seyn, aber zum scharfen Nachdenken gewohnt, gewohnt Schluͤsse auf Schluͤsse zu bauen, und so jede Sache bis auf ihre aͤusserste Wirkung zu verfolgen, dachte er sich auch hier die Feindschaft seines Vorgesetzten, dachte sich alles, was jener wohl anwenden koͤnnte, ihm zu schaden, erschrack vor dem Bilde seiner Phantasie, und hielt endlich dies, was blosse Spekulationen waren, fuͤr Wirklichkeiten. Nun glaubte er nichts als Verraͤther und Ausspaͤher um sich zu haben, entzog sich allem Umgange, weil er alle fuͤr Feinde hielt. Mit der aͤussersten Unruhe ging er ins Kollegium, uͤberdachte, wenn er zu Hause kam, jedes Wort, was gesprochen, jede Miene, die gemacht
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 2. Berlin, 1783, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0102_1783/12>, abgerufen am 27.07.2024. |