Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 10, St. 2. Berlin, 1793.Dem Leser dieser Aphorismen. ![]() Jst Hypothese das Grab der Philosophie -- oder ist sie Läuterung, die dem anbrechenden Schimmer der Wahrheit vorhergehet? Was ist in dem ganzen weiten Reiche des Naturforschens mehr, als hypothesenmäßiges Aufstellen und Schliessen, was anders, als auf trügliche Sinne gebaute, von vorübergehenden Sinnenerscheinungen abgezogene Resultatenreihe! -- Dogmatismus ist das Ende des Weiterstrebens und Fortschreitens in dem Naturforschen, der gefährliche Markstein, wo die Vernunft unglücklich Halt machet, die Natur sorglos in ihren Geheimnissen ihr Wesen forttreiben und fortarbeiten zu lassen. Die Alten waren, glaub' ich immer, der Entdeckung der Naturgeheimnisse näher, näher der Aufhellung des geheimen Geschäfts der Zeugung, als wir; je mehr durch Hypothesen sie das wahrscheinlichste abwogen, und je mehr wir an dogmatischen Glauben der Zergliederungskunde gewöhnt nichts anders zu glauben und zu finden als was die Sinne sehen, für unphilosophisch und ungründlich halten. Die Erfahrung muß nur bestätigen, und die Vernunft finden: die Erfahrung aber nicht finden, und die Vernunft blos bestätigen. Wittenberg. Aphorismen über Zeugung. ![]() Ce n'est qu'un moule, dans le quel Dieu a jette l'Univers. Wir blicken nach den äussersten Enden unsers Daseins hin, und sie verschwinden -- Jahrhunderte durchsuchen wir, forschen Anatomen, Denker, Beobachter, und nichts finden wir auf dem langen Dem Leser dieser Aphorismen. ![]() Jst Hypothese das Grab der Philosophie — oder ist sie Laͤuterung, die dem anbrechenden Schimmer der Wahrheit vorhergehet? Was ist in dem ganzen weiten Reiche des Naturforschens mehr, als hypothesenmaͤßiges Aufstellen und Schliessen, was anders, als auf truͤgliche Sinne gebaute, von voruͤbergehenden Sinnenerscheinungen abgezogene Resultatenreihe! — Dogmatismus ist das Ende des Weiterstrebens und Fortschreitens in dem Naturforschen, der gefaͤhrliche Markstein, wo die Vernunft ungluͤcklich Halt machet, die Natur sorglos in ihren Geheimnissen ihr Wesen forttreiben und fortarbeiten zu lassen. Die Alten waren, glaub' ich immer, der Entdeckung der Naturgeheimnisse naͤher, naͤher der Aufhellung des geheimen Geschaͤfts der Zeugung, als wir; je mehr durch Hypothesen sie das wahrscheinlichste abwogen, und je mehr wir an dogmatischen Glauben der Zergliederungskunde gewoͤhnt nichts anders zu glauben und zu finden als was die Sinne sehen, fuͤr unphilosophisch und ungruͤndlich halten. Die Erfahrung muß nur bestaͤtigen, und die Vernunft finden: die Erfahrung aber nicht finden, und die Vernunft blos bestaͤtigen. Wittenberg. Aphorismen uͤber Zeugung. ![]() Ce n'est qu'un moule, dans le quel Dieu a jetté l'Univers. Wir blicken nach den aͤussersten Enden unsers Daseins hin, und sie verschwinden — Jahrhunderte durchsuchen wir, forschen Anatomen, Denker, Beobachter, und nichts finden wir auf dem langen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0008" n="8"/><lb/><lb/> </div> <div n="2"> <head>Dem Leser dieser Aphorismen.</head><lb/> <note type="editorial"> <bibl> <persName ref="#ref16"><note type="editorial"/>Grohmann, Johann Christian August</persName> </bibl> </note> <p>Jst Hypothese das Grab der Philosophie — oder ist sie Laͤuterung, die dem anbrechenden Schimmer der Wahrheit vorhergehet? Was ist in dem ganzen weiten Reiche des Naturforschens mehr, als hypothesenmaͤßiges Aufstellen und Schliessen, was anders, als auf truͤgliche Sinne gebaute, von voruͤbergehenden Sinnenerscheinungen abgezogene Resultatenreihe! — Dogmatismus ist das Ende des Weiterstrebens und Fortschreitens in dem Naturforschen, der gefaͤhrliche Markstein, wo die Vernunft ungluͤcklich Halt machet, die Natur sorglos in ihren Geheimnissen ihr Wesen forttreiben und fortarbeiten zu lassen. Die Alten waren, glaub' ich immer, der Entdeckung der Naturgeheimnisse naͤher, naͤher der Aufhellung des geheimen Geschaͤfts der Zeugung, als wir; je mehr durch Hypothesen sie das wahrscheinlichste abwogen, und je mehr wir an dogmatischen Glauben der Zergliederungskunde gewoͤhnt nichts anders zu glauben und zu finden als was die Sinne sehen, fuͤr unphilosophisch und ungruͤndlich halten. 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Dem Leser dieser Aphorismen.
Jst Hypothese das Grab der Philosophie — oder ist sie Laͤuterung, die dem anbrechenden Schimmer der Wahrheit vorhergehet? Was ist in dem ganzen weiten Reiche des Naturforschens mehr, als hypothesenmaͤßiges Aufstellen und Schliessen, was anders, als auf truͤgliche Sinne gebaute, von voruͤbergehenden Sinnenerscheinungen abgezogene Resultatenreihe! — Dogmatismus ist das Ende des Weiterstrebens und Fortschreitens in dem Naturforschen, der gefaͤhrliche Markstein, wo die Vernunft ungluͤcklich Halt machet, die Natur sorglos in ihren Geheimnissen ihr Wesen forttreiben und fortarbeiten zu lassen. Die Alten waren, glaub' ich immer, der Entdeckung der Naturgeheimnisse naͤher, naͤher der Aufhellung des geheimen Geschaͤfts der Zeugung, als wir; je mehr durch Hypothesen sie das wahrscheinlichste abwogen, und je mehr wir an dogmatischen Glauben der Zergliederungskunde gewoͤhnt nichts anders zu glauben und zu finden als was die Sinne sehen, fuͤr unphilosophisch und ungruͤndlich halten. Die Erfahrung muß nur bestaͤtigen, und die Vernunft finden: die Erfahrung aber nicht finden, und die Vernunft blos bestaͤtigen.
Wittenberg.
Grohmann.
Aphorismen uͤber Zeugung.
Ce n'est qu'un moule, dans le quel Dieu a jetté l'Univers. Wir blicken nach den aͤussersten Enden unsers Daseins hin, und sie verschwinden — Jahrhunderte durchsuchen wir, forschen Anatomen, Denker, Beobachter, und nichts finden wir auf dem langen
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 10, St. 2. Berlin, 1793, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde01002_1793/8>, abgerufen am 16.02.2025. |