Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 10, St. 1. Berlin, 1793.
Die zunehmende Kühle siegte über Phantasie und Schlaf, bis ich mich setzte und ganz verhüllte. Unterbrochen einschlafen und wieder erwachen, war meine nächtliche Beschäftigung. Eher als ichs vermuthete, wurde ich von angenehmer Morgendämmerung begrüßt, betete andächtiger, inniger und zufriedener zu Gott, als ich in manchem Wirthshause gebetet hatte. Unfehlbar ist das Beten aus Büchern, zwischen Poltern, Reden und Geschäften, nur das erste weltliche Tageswerk, das aus scheinheiliger Frömmelei, oder angewohnter Gemüthsrichtung, oder aus mißverstandener Verdienstlichkeit, verrichtet wird. Schon ein kleines Kind ist vermögend die Andacht und gehörige Gedankenfestigkeit zu stören. Lermende Arbeiten und fordernde Befehle vom Gesinde; ein Topf, kaum einen Dreier werth, von einem Kinde zerbrochen, unterbricht nicht nur die Andacht, sondern verwandelt sich gemeiniglich in Schelten, Fluchen und Schlagen. Auch ist das Gemüth der mehresten Menschen, die ich beim Gebet beobachtet, schon zu sehr getheilt, und auf irrdische Bedürfnisse geleitet oder in der Schüssel, auf den
Die zunehmende Kuͤhle siegte uͤber Phantasie und Schlaf, bis ich mich setzte und ganz verhuͤllte. Unterbrochen einschlafen und wieder erwachen, war meine naͤchtliche Beschaͤftigung. Eher als ichs vermuthete, wurde ich von angenehmer Morgendaͤmmerung begruͤßt, betete andaͤchtiger, inniger und zufriedener zu Gott, als ich in manchem Wirthshause gebetet hatte. Unfehlbar ist das Beten aus Buͤchern, zwischen Poltern, Reden und Geschaͤften, nur das erste weltliche Tageswerk, das aus scheinheiliger Froͤmmelei, oder angewohnter Gemuͤthsrichtung, oder aus mißverstandener Verdienstlichkeit, verrichtet wird. Schon ein kleines Kind ist vermoͤgend die Andacht und gehoͤrige Gedankenfestigkeit zu stoͤren. Lermende Arbeiten und fordernde Befehle vom Gesinde; ein Topf, kaum einen Dreier werth, von einem Kinde zerbrochen, unterbricht nicht nur die Andacht, sondern verwandelt sich gemeiniglich in Schelten, Fluchen und Schlagen. Auch ist das Gemuͤth der mehresten Menschen, die ich beim Gebet beobachtet, schon zu sehr getheilt, und auf irrdische Beduͤrfnisse geleitet oder in der Schuͤssel, auf den <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <lg> <pb facs="#f0065" n="63"/><lb/> <l>Vielen deutet eure Klage,</l> <l>Schrecklich nahes Sterben an,</l> <l>Denen, wo nach alter Sage,</l> <l>Ein'ge euch auf Daͤchern sahn.</l> <l>Aber mir, dem Tod nicht fern,</l> <l>Heulet nur, ich hoͤr euch gern.</l> </lg> <p>Die zunehmende Kuͤhle siegte uͤber Phantasie und Schlaf, bis ich mich setzte und ganz verhuͤllte. Unterbrochen einschlafen und wieder erwachen, war meine naͤchtliche Beschaͤftigung. Eher als ichs vermuthete, wurde ich von angenehmer Morgendaͤmmerung begruͤßt, betete andaͤchtiger, inniger und zufriedener zu Gott, als ich in manchem Wirthshause gebetet hatte.</p> <p>Unfehlbar ist das Beten aus Buͤchern, zwischen Poltern, Reden und Geschaͤften, nur das erste weltliche Tageswerk, das aus scheinheiliger Froͤmmelei, oder angewohnter Gemuͤthsrichtung, oder aus mißverstandener Verdienstlichkeit, verrichtet wird. Schon ein kleines Kind ist vermoͤgend die Andacht und gehoͤrige Gedankenfestigkeit zu stoͤren. Lermende Arbeiten und fordernde Befehle vom Gesinde; ein Topf, kaum einen Dreier werth, von einem Kinde zerbrochen, unterbricht nicht nur die Andacht, sondern verwandelt sich gemeiniglich in Schelten, Fluchen und Schlagen. Auch ist das Gemuͤth der mehresten Menschen, die ich beim Gebet beobachtet, schon zu sehr getheilt, und auf irrdische Beduͤrfnisse geleitet oder in der Schuͤssel, auf den<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [63/0065]
Vielen deutet eure Klage, Schrecklich nahes Sterben an, Denen, wo nach alter Sage, Ein'ge euch auf Daͤchern sahn. Aber mir, dem Tod nicht fern, Heulet nur, ich hoͤr euch gern.
Die zunehmende Kuͤhle siegte uͤber Phantasie und Schlaf, bis ich mich setzte und ganz verhuͤllte. Unterbrochen einschlafen und wieder erwachen, war meine naͤchtliche Beschaͤftigung. Eher als ichs vermuthete, wurde ich von angenehmer Morgendaͤmmerung begruͤßt, betete andaͤchtiger, inniger und zufriedener zu Gott, als ich in manchem Wirthshause gebetet hatte.
Unfehlbar ist das Beten aus Buͤchern, zwischen Poltern, Reden und Geschaͤften, nur das erste weltliche Tageswerk, das aus scheinheiliger Froͤmmelei, oder angewohnter Gemuͤthsrichtung, oder aus mißverstandener Verdienstlichkeit, verrichtet wird. Schon ein kleines Kind ist vermoͤgend die Andacht und gehoͤrige Gedankenfestigkeit zu stoͤren. Lermende Arbeiten und fordernde Befehle vom Gesinde; ein Topf, kaum einen Dreier werth, von einem Kinde zerbrochen, unterbricht nicht nur die Andacht, sondern verwandelt sich gemeiniglich in Schelten, Fluchen und Schlagen. Auch ist das Gemuͤth der mehresten Menschen, die ich beim Gebet beobachtet, schon zu sehr getheilt, und auf irrdische Beduͤrfnisse geleitet oder in der Schuͤssel, auf den
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 10, St. 1. Berlin, 1793, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde01001_1793/65>, abgerufen am 17.07.2024. |