Morgenstern, Lina: Ein offenes Wort über das medizinische Studium der Frauen an Herrn Prof. Dr. W. Waldeyer. Berlin, 1888.
<TEI> <text> <body> <p> <q who="Heiberg"><pb facs="#f0015" n="16"/> Zutritt zu geben sowohl zu den medizinischen Übungen als zum<lb n="16.533"/> medizinischen Examen. In einer Reihe von Jahren habe ich mit<lb n="16.534"/> Frauen auf Laboratorien in Sezierstunden und Hospitälern zusammen<lb n="16.535"/> gearbeitet. Dabei habe ich sowohl Liebesverhältnisse als<lb n="16.536"/> feindliche Haltung entstehen sehen, letztere jedoch seltener als erstere.<lb n="16.537"/> Was Liebesverhältnisse und Neigungen betrifft, so treten diese auch<lb n="16.538"/> in Ländern, wie z. B. mohamedanischen, auf, wo man den Versuch<lb n="16.539"/> macht, die Frau vollständig vom jungen Mann abgesondert zu<lb n="16.540"/> halten; letztere knüpfen Verbindungen an, selbst in den am strengsten<lb n="16.541"/> bewachten Harems. Die moderne Gesellschaft hat ihren Schutz und<lb n="16.542"/> ihre Wehr nicht etwa in einer Absperrung der Geschlechter von<lb n="16.543"/> einander, sondern in einer kräftigeren, intellektuellen und in einer<lb n="16.544"/> sorgfältigeren moralischen Entwicklung gesucht. Dieses hat seine<lb n="16.545"/> Wirkung in Schulen geäußert, die man nach amerikanischem: Beispiel,<lb n="16.546"/> z. B. in Stockholm hergestellt hat, wo Knaben und Mädchen<lb n="16.547"/> in einer und derselben Klasse zusammensitzen und denselben Unterricht<lb n="16.548"/> erhalten. Wir befinden uns mitten und schon ziemlich hoch<lb n="16.549"/> und weit in einem Strom, der zwischen der eingeengten mohamedanischen<lb n="16.550"/> und der freieren amerikanischen Auffassung fließt.</q> <lb n="16.551"/> </p> <p> <q who="Heiberg">In den letzten 25 Jahren habe ich solchergestalt ein bedeutendes<lb n="16.552"/> Abnehmen mit Bezug auf die Schüchternheit und das steife<lb n="16.553"/> Wesen verspürt, die bei uns im Umgange zwischen beiden Geschlechtern<lb n="16.554"/> auftritt. Ich sehe hierin einen Fortschritt. Selbst wenn<lb n="16.555"/> ich persönlich gegen den Zutritt der Frau zur Universität behufs<lb n="16.556"/> Ausbildung zum ärztlichen Berufe wäre, würde ich doch glauben,<lb n="16.557"/> daß ein Widerstand seitens der Universität jetzt, da die Frau<lb n="16.558"/> vollen Zutritt zum examen artium erhalten hat und Student<lb n="16.559"/> werden kann, dasselbe sein würde als gegen den Strom zu kämpfen.</q> <lb n="16.560"/> </p> <p> <q who="Heiberg">Als Einwendungen gegen den Zutritt der Frau zum medizinischen<lb n="16.561"/> Studium hebt man das stärker entwickelte Gefühlsleben,<lb n="16.562"/> die geringeren Geistesfähigkeiten und die geringere körperliche Stärke<lb n="16.563"/> hervor. Als große Regel wird man solches vielleicht bei der Frau<lb n="16.564"/> antreffen; es ist mir indessen nicht bekannt, daß man in Betreff der<lb n="16.565"/> männlichen Studenten Rekrutuntersuchungen anstellt, ehe man<lb n="16.566"/> ihnen Zutritt zum medizinischen Studium giebt. Es sind mir persönlich<lb n="16.567"/> Fälle vorgekommen, wo ich den Wunsch hegte, nervöse, wenig<lb n="16.568"/> begabte und körperlich schwache männliche Studenten, ihrer selbst<lb n="16.569"/> halber, vom Studium zurückweisen zu können. Hierauf wird sich<lb n="16.570"/> indessen der Staat wohl schwerlich einlassen. Das Leben selbst und<lb n="16.571"/> dessen Forderung nehmen ja auch oft die Abweisung selbst später<lb n="16.572"/> in Händen. Ebenso wie es nun Männer giebt, die das Durchschnittsmaß<lb n="16.573"/> nicht erreichen, so giebt es auch Frauen, die dasselbe<lb n="16.574"/> </q> </p> </body> </text> </TEI> [16/0015]
Zutritt zu geben sowohl zu den medizinischen Übungen als zum 16.533
medizinischen Examen. In einer Reihe von Jahren habe ich mit 16.534
Frauen auf Laboratorien in Sezierstunden und Hospitälern zusammen 16.535
gearbeitet. Dabei habe ich sowohl Liebesverhältnisse als 16.536
feindliche Haltung entstehen sehen, letztere jedoch seltener als erstere. 16.537
Was Liebesverhältnisse und Neigungen betrifft, so treten diese auch 16.538
in Ländern, wie z. B. mohamedanischen, auf, wo man den Versuch 16.539
macht, die Frau vollständig vom jungen Mann abgesondert zu 16.540
halten; letztere knüpfen Verbindungen an, selbst in den am strengsten 16.541
bewachten Harems. Die moderne Gesellschaft hat ihren Schutz und 16.542
ihre Wehr nicht etwa in einer Absperrung der Geschlechter von 16.543
einander, sondern in einer kräftigeren, intellektuellen und in einer 16.544
sorgfältigeren moralischen Entwicklung gesucht. Dieses hat seine 16.545
Wirkung in Schulen geäußert, die man nach amerikanischem: Beispiel, 16.546
z. B. in Stockholm hergestellt hat, wo Knaben und Mädchen 16.547
in einer und derselben Klasse zusammensitzen und denselben Unterricht 16.548
erhalten. Wir befinden uns mitten und schon ziemlich hoch 16.549
und weit in einem Strom, der zwischen der eingeengten mohamedanischen 16.550
und der freieren amerikanischen Auffassung fließt. 16.551
In den letzten 25 Jahren habe ich solchergestalt ein bedeutendes 16.552
Abnehmen mit Bezug auf die Schüchternheit und das steife 16.553
Wesen verspürt, die bei uns im Umgange zwischen beiden Geschlechtern 16.554
auftritt. Ich sehe hierin einen Fortschritt. Selbst wenn 16.555
ich persönlich gegen den Zutritt der Frau zur Universität behufs 16.556
Ausbildung zum ärztlichen Berufe wäre, würde ich doch glauben, 16.557
daß ein Widerstand seitens der Universität jetzt, da die Frau 16.558
vollen Zutritt zum examen artium erhalten hat und Student 16.559
werden kann, dasselbe sein würde als gegen den Strom zu kämpfen. 16.560
Als Einwendungen gegen den Zutritt der Frau zum medizinischen 16.561
Studium hebt man das stärker entwickelte Gefühlsleben, 16.562
die geringeren Geistesfähigkeiten und die geringere körperliche Stärke 16.563
hervor. Als große Regel wird man solches vielleicht bei der Frau 16.564
antreffen; es ist mir indessen nicht bekannt, daß man in Betreff der 16.565
männlichen Studenten Rekrutuntersuchungen anstellt, ehe man 16.566
ihnen Zutritt zum medizinischen Studium giebt. Es sind mir persönlich 16.567
Fälle vorgekommen, wo ich den Wunsch hegte, nervöse, wenig 16.568
begabte und körperlich schwache männliche Studenten, ihrer selbst 16.569
halber, vom Studium zurückweisen zu können. Hierauf wird sich 16.570
indessen der Staat wohl schwerlich einlassen. Das Leben selbst und 16.571
dessen Forderung nehmen ja auch oft die Abweisung selbst später 16.572
in Händen. Ebenso wie es nun Männer giebt, die das Durchschnittsmaß 16.573
nicht erreichen, so giebt es auch Frauen, die dasselbe 16.574
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