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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856.

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FÜNFTES BUCH. KAPITEL XII.
Compilator. -- Merkwürdig und in hohem Grade charakteristisch
ist die Historiographie dieser Zeit allerdings, aber freilich so un-
erfreulich wie die Zeit selbst. Das Ineinanderaufgehen der grie-
chischen und der lateinischen Litteratur tritt auf keinem Gebiet so
deutlich hervor wie auf dem der Geschichte; hier setzen die beider-
seitigen Litteraturen in Stoff und Form am frühesten sich ins
Gleiche und die einheitliche Auffassung der hellenisch-italischen
Geschichte, mit der Polybios seiner Zeit vorangeeilt war, lernte
jetzt bereits der griechische wie der römische Knabe in der Schule.
Allein wenn der Mittelmeerstaat einen Geschichtschreiber gefunden
hatte, ehe er seiner selbst sich bewusst worden war, so stand jetzt,
wo das Bewusstsein sich eingestellt hatte, weder bei den Griechen
noch bei den Römern ein Mann auf, der ihm den rechten Aus-
druck zu leihen vermochte. Eine römische Geschichtschreibung,
sagt Cicero, giebt es nicht; und so weit wir urtheilen können, ist
dies nicht mehr als die einfache Wahrheit. Die Forschung wendet
von der Geschichtschreibung sich ab, die Geschichtschreibung
von der Forschung; die historische Litteratur schwankt zwischen
dem Schulbuch und dem Roman. Alle reinen Kunstgattungen,
Epos, Drama, Lyrik, Historie sind nichtig in dieser nichtigen
Welt; aber in keiner Gattung spiegelt doch der geistige Verfall der
ciceronischen Zeit in so grauenvoller Klarheit sich wieder wie in
ihrer Historiographie. -- Die kleine historische Litteratur dieser
Zeit weist dagegen unter vielen geringfügigen und verschollenen
Productionen eine Schrift ersten Ranges auf: die Memoiren Cae-
sars oder vielmehr der militärische Rapport des demokratischen
Generals an das Volk, von dem er seinen Auftrag erhalten hat.
Der vollendetste und allein von dem Verfasser selbst veröffent-
lichte Abschnitt, der die keltischen Feldzüge bis zum J. 702 schil-
dert, hat offenbar den Zweck das formell verfassungswidrige Be-
ginnen Caesars, ohne Auftrag der competenten Behörde ein grosses
Land zu erobern und zu diesem Ende sein Heer beständig zu
vermehren, so gut wie möglich vor dem Publicum zu rechtfer-
tigen; er ward geschrieben und bekannt gemacht im J. 703, als in
Rom der Sturm gegen Caesar losbrach und er aufgefordert ward
sein Heer zu entlassen und sich zur Verantwortung zu stellen.* Der

* Dass die Schrift über den gallischen Krieg auf einmal publicirt wor-
den ist, hat man längst vermuthet; den bestimmten Beweis dafür liefert die
Erwähnung der Gleichstellung der Boier und der Haeduer schon im ersten
Buch (c. 28), während doch die Boier noch im siebenten (c. 10) als zins-
pflichtige Unterthanen der Haeduer vorkommen und offenbar erst wegen

FÜNFTES BUCH. KAPITEL XII.
Compilator. — Merkwürdig und in hohem Grade charakteristisch
ist die Historiographie dieser Zeit allerdings, aber freilich so un-
erfreulich wie die Zeit selbst. Das Ineinanderaufgehen der grie-
chischen und der lateinischen Litteratur tritt auf keinem Gebiet so
deutlich hervor wie auf dem der Geschichte; hier setzen die beider-
seitigen Litteraturen in Stoff und Form am frühesten sich ins
Gleiche und die einheitliche Auffassung der hellenisch-italischen
Geschichte, mit der Polybios seiner Zeit vorangeeilt war, lernte
jetzt bereits der griechische wie der römische Knabe in der Schule.
Allein wenn der Mittelmeerstaat einen Geschichtschreiber gefunden
hatte, ehe er seiner selbst sich bewuſst worden war, so stand jetzt,
wo das Bewuſstsein sich eingestellt hatte, weder bei den Griechen
noch bei den Römern ein Mann auf, der ihm den rechten Aus-
druck zu leihen vermochte. Eine römische Geschichtschreibung,
sagt Cicero, giebt es nicht; und so weit wir urtheilen können, ist
dies nicht mehr als die einfache Wahrheit. Die Forschung wendet
von der Geschichtschreibung sich ab, die Geschichtschreibung
von der Forschung; die historische Litteratur schwankt zwischen
dem Schulbuch und dem Roman. Alle reinen Kunstgattungen,
Epos, Drama, Lyrik, Historie sind nichtig in dieser nichtigen
Welt; aber in keiner Gattung spiegelt doch der geistige Verfall der
ciceronischen Zeit in so grauenvoller Klarheit sich wieder wie in
ihrer Historiographie. — Die kleine historische Litteratur dieser
Zeit weist dagegen unter vielen geringfügigen und verschollenen
Productionen eine Schrift ersten Ranges auf: die Memoiren Cae-
sars oder vielmehr der militärische Rapport des demokratischen
Generals an das Volk, von dem er seinen Auftrag erhalten hat.
Der vollendetste und allein von dem Verfasser selbst veröffent-
lichte Abschnitt, der die keltischen Feldzüge bis zum J. 702 schil-
dert, hat offenbar den Zweck das formell verfassungswidrige Be-
ginnen Caesars, ohne Auftrag der competenten Behörde ein groſses
Land zu erobern und zu diesem Ende sein Heer beständig zu
vermehren, so gut wie möglich vor dem Publicum zu rechtfer-
tigen; er ward geschrieben und bekannt gemacht im J. 703, als in
Rom der Sturm gegen Caesar losbrach und er aufgefordert ward
sein Heer zu entlassen und sich zur Verantwortung zu stellen.* Der

* Daſs die Schrift über den gallischen Krieg auf einmal publicirt wor-
den ist, hat man längst vermuthet; den bestimmten Beweis dafür liefert die
Erwähnung der Gleichstellung der Boier und der Haeduer schon im ersten
Buch (c. 28), während doch die Boier noch im siebenten (c. 10) als zins-
pflichtige Unterthanen der Haeduer vorkommen und offenbar erst wegen
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[568/0578] FÜNFTES BUCH. KAPITEL XII. Compilator. — Merkwürdig und in hohem Grade charakteristisch ist die Historiographie dieser Zeit allerdings, aber freilich so un- erfreulich wie die Zeit selbst. Das Ineinanderaufgehen der grie- chischen und der lateinischen Litteratur tritt auf keinem Gebiet so deutlich hervor wie auf dem der Geschichte; hier setzen die beider- seitigen Litteraturen in Stoff und Form am frühesten sich ins Gleiche und die einheitliche Auffassung der hellenisch-italischen Geschichte, mit der Polybios seiner Zeit vorangeeilt war, lernte jetzt bereits der griechische wie der römische Knabe in der Schule. Allein wenn der Mittelmeerstaat einen Geschichtschreiber gefunden hatte, ehe er seiner selbst sich bewuſst worden war, so stand jetzt, wo das Bewuſstsein sich eingestellt hatte, weder bei den Griechen noch bei den Römern ein Mann auf, der ihm den rechten Aus- druck zu leihen vermochte. Eine römische Geschichtschreibung, sagt Cicero, giebt es nicht; und so weit wir urtheilen können, ist dies nicht mehr als die einfache Wahrheit. Die Forschung wendet von der Geschichtschreibung sich ab, die Geschichtschreibung von der Forschung; die historische Litteratur schwankt zwischen dem Schulbuch und dem Roman. Alle reinen Kunstgattungen, Epos, Drama, Lyrik, Historie sind nichtig in dieser nichtigen Welt; aber in keiner Gattung spiegelt doch der geistige Verfall der ciceronischen Zeit in so grauenvoller Klarheit sich wieder wie in ihrer Historiographie. — Die kleine historische Litteratur dieser Zeit weist dagegen unter vielen geringfügigen und verschollenen Productionen eine Schrift ersten Ranges auf: die Memoiren Cae- sars oder vielmehr der militärische Rapport des demokratischen Generals an das Volk, von dem er seinen Auftrag erhalten hat. Der vollendetste und allein von dem Verfasser selbst veröffent- lichte Abschnitt, der die keltischen Feldzüge bis zum J. 702 schil- dert, hat offenbar den Zweck das formell verfassungswidrige Be- ginnen Caesars, ohne Auftrag der competenten Behörde ein groſses Land zu erobern und zu diesem Ende sein Heer beständig zu vermehren, so gut wie möglich vor dem Publicum zu rechtfer- tigen; er ward geschrieben und bekannt gemacht im J. 703, als in Rom der Sturm gegen Caesar losbrach und er aufgefordert ward sein Heer zu entlassen und sich zur Verantwortung zu stellen. * Der * Daſs die Schrift über den gallischen Krieg auf einmal publicirt wor- den ist, hat man längst vermuthet; den bestimmten Beweis dafür liefert die Erwähnung der Gleichstellung der Boier und der Haeduer schon im ersten Buch (c. 28), während doch die Boier noch im siebenten (c. 10) als zins- pflichtige Unterthanen der Haeduer vorkommen und offenbar erst wegen

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856, S. 568. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische03_1856/578>, abgerufen am 24.11.2024.