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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856.

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LITTERATUR.
individueller und fast dramatischer Durchführung, steht vor allem
die solideste Kleinmalerei gebildeter Geselligkeit, die anmuthigen
sehr ungenirten Mädchenabenteuer, davon das halbe Vergnügen
im Ausschwatzen und Poetisiren der Liebesgeheimnisse besteht,
das liebe Leben der Jugend bei vollen Bechern und leeren Beu-
teln, die Reise- und die Dichterlust, die römische und öfter noch
die veronesische Stadtanekdote und der launige Scherz in dem
vertrauten Zirkel der Freunde. Aber nicht bloss in die Saiten
greift des Dichters Apoll, sondern er führt auch den Bogen; der
geflügelte Pfeil des Spottes verschont weder den langweiligen
Versemacher noch den sprachverderbenden Provinzialen, aber
keinen trifft er öfter und schärfer als die Gewaltigen, von denen
der Freiheit des Volkes Gefahr droht. Die kurzzeiligen und kurz-
weiligen, oft von anmuthigen Refrains belebten Masse sind von
vollendeter Kunst und doch ohne die widerwärtige Glätte der Fa-
brik. Um einander führen diese Gedichte in das Nil- und in das
Pothal; aber in dem letztern ist der Dichter unvergleichlich bes-
ser zu Hause. Seine Dichtungen ruhen wohl auf der alexandri-
nischen Kunst, aber doch auch auf dem bürgerlichen, ja dem
landstädtischen Bewusstsein, auf dem Gegensatz von Verona zu
Rom, auf dem Gegensatz des schlichten Municipalen gegen die
hochgebornen ihren geringen Freunden gewöhnlich übel mit-
spielenden Herren vom Senat, wie er in Catulls Heimath, dem
blühenden und verhältnissmässig frischen cisalpinischen Gallien,
lebendiger noch als irgendwo anders empfunden werden mochte.
In die schönsten seiner Lieder spielen die süssen Bilder vom
Gardasee hinein und schwerlich hätte in dieser Zeit ein Haupt-
städter ein Gedicht zu schreiben vermocht wie das tief empfun-
dene auf des Bruders Tod oder das brave echt bürgerliche Fest-
lied zu der Hochzeit des Manlius und der Aurunculeia. Catullus,
obwohl abhängig von den alexandrinischen Meistern und mitten
in der Mode- und Cliquendichtung jener Zeit stehend, war doch
nicht bloss ein guter Schüler unter vielen mässigen und schlech-
ten, sondern seinen Meistern selbst um so viel überlegen, als der
Bürger einer freien italischen Gemeinde mehr war als der kosmo-
politische hellenische Litterat. Eminente schöpferische Kraft und
hohe poetische Intentionen darf man freilich bei ihm nicht su-
chen; er ist ein reichbegabter und anmuthiger, aber kein grosser
Poet und seine Gedichte sind, wie er selbst sie nennt, nichts als
,Scherze und Thorheiten'. Aber wenn nicht bloss die Zeitgenos-
sen von diesen flüchtigen Liedchen elektrisirt wurden, sondern
auch die Kunstkritiker der augusteischen Zeit ihn neben Lucre-

LITTERATUR.
individueller und fast dramatischer Durchführung, steht vor allem
die solideste Kleinmalerei gebildeter Geselligkeit, die anmuthigen
sehr ungenirten Mädchenabenteuer, davon das halbe Vergnügen
im Ausschwatzen und Poetisiren der Liebesgeheimnisse besteht,
das liebe Leben der Jugend bei vollen Bechern und leeren Beu-
teln, die Reise- und die Dichterlust, die römische und öfter noch
die veronesische Stadtanekdote und der launige Scherz in dem
vertrauten Zirkel der Freunde. Aber nicht bloſs in die Saiten
greift des Dichters Apoll, sondern er führt auch den Bogen; der
geflügelte Pfeil des Spottes verschont weder den langweiligen
Versemacher noch den sprachverderbenden Provinzialen, aber
keinen trifft er öfter und schärfer als die Gewaltigen, von denen
der Freiheit des Volkes Gefahr droht. Die kurzzeiligen und kurz-
weiligen, oft von anmuthigen Refrains belebten Maſse sind von
vollendeter Kunst und doch ohne die widerwärtige Glätte der Fa-
brik. Um einander führen diese Gedichte in das Nil- und in das
Pothal; aber in dem letztern ist der Dichter unvergleichlich bes-
ser zu Hause. Seine Dichtungen ruhen wohl auf der alexandri-
nischen Kunst, aber doch auch auf dem bürgerlichen, ja dem
landstädtischen Bewuſstsein, auf dem Gegensatz von Verona zu
Rom, auf dem Gegensatz des schlichten Municipalen gegen die
hochgebornen ihren geringen Freunden gewöhnlich übel mit-
spielenden Herren vom Senat, wie er in Catulls Heimath, dem
blühenden und verhältniſsmäſsig frischen cisalpinischen Gallien,
lebendiger noch als irgendwo anders empfunden werden mochte.
In die schönsten seiner Lieder spielen die süſsen Bilder vom
Gardasee hinein und schwerlich hätte in dieser Zeit ein Haupt-
städter ein Gedicht zu schreiben vermocht wie das tief empfun-
dene auf des Bruders Tod oder das brave echt bürgerliche Fest-
lied zu der Hochzeit des Manlius und der Aurunculeia. Catullus,
obwohl abhängig von den alexandrinischen Meistern und mitten
in der Mode- und Cliquendichtung jener Zeit stehend, war doch
nicht bloſs ein guter Schüler unter vielen mäſsigen und schlech-
ten, sondern seinen Meistern selbst um so viel überlegen, als der
Bürger einer freien italischen Gemeinde mehr war als der kosmo-
politische hellenische Litterat. Eminente schöpferische Kraft und
hohe poetische Intentionen darf man freilich bei ihm nicht su-
chen; er ist ein reichbegabter und anmuthiger, aber kein groſser
Poet und seine Gedichte sind, wie er selbst sie nennt, nichts als
‚Scherze und Thorheiten‘. Aber wenn nicht bloſs die Zeitgenos-
sen von diesen flüchtigen Liedchen elektrisirt wurden, sondern
auch die Kunstkritiker der augusteischen Zeit ihn neben Lucre-

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[555/0565] LITTERATUR. individueller und fast dramatischer Durchführung, steht vor allem die solideste Kleinmalerei gebildeter Geselligkeit, die anmuthigen sehr ungenirten Mädchenabenteuer, davon das halbe Vergnügen im Ausschwatzen und Poetisiren der Liebesgeheimnisse besteht, das liebe Leben der Jugend bei vollen Bechern und leeren Beu- teln, die Reise- und die Dichterlust, die römische und öfter noch die veronesische Stadtanekdote und der launige Scherz in dem vertrauten Zirkel der Freunde. Aber nicht bloſs in die Saiten greift des Dichters Apoll, sondern er führt auch den Bogen; der geflügelte Pfeil des Spottes verschont weder den langweiligen Versemacher noch den sprachverderbenden Provinzialen, aber keinen trifft er öfter und schärfer als die Gewaltigen, von denen der Freiheit des Volkes Gefahr droht. Die kurzzeiligen und kurz- weiligen, oft von anmuthigen Refrains belebten Maſse sind von vollendeter Kunst und doch ohne die widerwärtige Glätte der Fa- brik. Um einander führen diese Gedichte in das Nil- und in das Pothal; aber in dem letztern ist der Dichter unvergleichlich bes- ser zu Hause. Seine Dichtungen ruhen wohl auf der alexandri- nischen Kunst, aber doch auch auf dem bürgerlichen, ja dem landstädtischen Bewuſstsein, auf dem Gegensatz von Verona zu Rom, auf dem Gegensatz des schlichten Municipalen gegen die hochgebornen ihren geringen Freunden gewöhnlich übel mit- spielenden Herren vom Senat, wie er in Catulls Heimath, dem blühenden und verhältniſsmäſsig frischen cisalpinischen Gallien, lebendiger noch als irgendwo anders empfunden werden mochte. In die schönsten seiner Lieder spielen die süſsen Bilder vom Gardasee hinein und schwerlich hätte in dieser Zeit ein Haupt- städter ein Gedicht zu schreiben vermocht wie das tief empfun- dene auf des Bruders Tod oder das brave echt bürgerliche Fest- lied zu der Hochzeit des Manlius und der Aurunculeia. Catullus, obwohl abhängig von den alexandrinischen Meistern und mitten in der Mode- und Cliquendichtung jener Zeit stehend, war doch nicht bloſs ein guter Schüler unter vielen mäſsigen und schlech- ten, sondern seinen Meistern selbst um so viel überlegen, als der Bürger einer freien italischen Gemeinde mehr war als der kosmo- politische hellenische Litterat. Eminente schöpferische Kraft und hohe poetische Intentionen darf man freilich bei ihm nicht su- chen; er ist ein reichbegabter und anmuthiger, aber kein groſser Poet und seine Gedichte sind, wie er selbst sie nennt, nichts als ‚Scherze und Thorheiten‘. Aber wenn nicht bloſs die Zeitgenos- sen von diesen flüchtigen Liedchen elektrisirt wurden, sondern auch die Kunstkritiker der augusteischen Zeit ihn neben Lucre-

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856, S. 555. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische03_1856/565>, abgerufen am 24.11.2024.