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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856.

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FÜNFTES BUCH. KAPITEL XII.
Gemüth anmuthig quillende' Gesang den gemeinen Liedern ge-
genüber ,wie gegen das Geschrei der Kraniche das kurze Lied
des Schwanes'; auch ihm schwillt das Herz, den selbsterfunde-
nen Melodien lauschend, von hoher Ehren Hoffnung -- eben wie
Ennius den Menschen, denen er ,geschöpft aus tiefer Brust des
Liedes Flammenborn', verbietet an seinem des unsterblichen
Sängers Grabe zu trauern. -- Es ist ein seltsames Verhängniss,
dass dieses ungemeine an ursprünglicher poetischer Begabung
den meisten, wo nicht allen seinen Vorgängern weit überlegene
Talent in eine Zeit gefallen war, in der es selber sich fremd und
verwaist fühlte und in Folge dessen in der wunderlichsten Weise
sich im Stoffe vergriffen hat. Epikuros System, welches das All
in einen grossen Atomenwirbel verwandelt und die Entstehung
und das Ende der Welt so wie alle Probleme der Natur und des
Lebens in rein mechanistischer Weise abzuwickeln unternimmt,
war wohl etwas weniger albern als die Mythenhistorisirung, wie
Euhemeros und nach ihm Ennius sie versucht hatten; aber ein
geistreiches und frisches System war es nicht und die Aufgabe
nun gar diese mechanistischer Weltanschauung poetisch zu ent-
wickeln war von der Art, dass wohl nie ein Dichter an einen un-
dankbareren Stoff Leben und Kunst verschwendet hat. Der phi-
losophische Leser tadelt an dem lucretischen Lehrgedicht die
Weglassung der feineren Pointen, die Oberflächlichkeit nament-
lich in der Darstellung der Controversen, die mangelhafte Glie-
derung, die häufigen Wiederholungen mit ebenso gutem Recht,
wie der poetische an der rhythmisirten Mathematik sich ärgert,
die einen grossen Theil des Gedichtes geradezu unlesbar macht.
Trotz dieser unglaublichen Mängel, denen jedes mittelmässige
Talent unvermeidlich hätte erliegen müssen, durfte dieser Dich-
ter mit Recht sich rühmen aus der poetischen Wildniss einen
neuen Kranz davongetragen zu haben, wie keinen noch die Mu-
sen verliehen hatten; und es sind auch keineswegs bloss die ge-
legentlichen Gleichnisse und sonstigen eingelegten Schilderungen
mächtiger Naturerscheinungen und mächtigerer Leidenschaften,
die dem Dichter diesen Kranz erwarben. Die Genialität der Le-
bensanschauung wie der Poesie des Lucretius ruht auf seinem
Unglauben, welcher mit der vollen Siegeskraft der Wahrheit und

Armeen vernichtenden Seestürme, die das eigene Heer verderbenden Ele-
phantenschaaren, also Bilder aus den punischen Kriegen, erscheinen als
gehörten sie der unmittelbaren Gegenwart an. Vgl. 2, 41. 5, 1226. 1303.
1339.

FÜNFTES BUCH. KAPITEL XII.
Gemüth anmuthig quillende‘ Gesang den gemeinen Liedern ge-
genüber ‚wie gegen das Geschrei der Kraniche das kurze Lied
des Schwanes‘; auch ihm schwillt das Herz, den selbsterfunde-
nen Melodien lauschend, von hoher Ehren Hoffnung — eben wie
Ennius den Menschen, denen er ‚geschöpft aus tiefer Brust des
Liedes Flammenborn‘, verbietet an seinem des unsterblichen
Sängers Grabe zu trauern. — Es ist ein seltsames Verhängniſs,
daſs dieses ungemeine an ursprünglicher poetischer Begabung
den meisten, wo nicht allen seinen Vorgängern weit überlegene
Talent in eine Zeit gefallen war, in der es selber sich fremd und
verwaist fühlte und in Folge dessen in der wunderlichsten Weise
sich im Stoffe vergriffen hat. Epikuros System, welches das All
in einen groſsen Atomenwirbel verwandelt und die Entstehung
und das Ende der Welt so wie alle Probleme der Natur und des
Lebens in rein mechanistischer Weise abzuwickeln unternimmt,
war wohl etwas weniger albern als die Mythenhistorisirung, wie
Euhemeros und nach ihm Ennius sie versucht hatten; aber ein
geistreiches und frisches System war es nicht und die Aufgabe
nun gar diese mechanistischer Weltanschauung poetisch zu ent-
wickeln war von der Art, daſs wohl nie ein Dichter an einen un-
dankbareren Stoff Leben und Kunst verschwendet hat. Der phi-
losophische Leser tadelt an dem lucretischen Lehrgedicht die
Weglassung der feineren Pointen, die Oberflächlichkeit nament-
lich in der Darstellung der Controversen, die mangelhafte Glie-
derung, die häufigen Wiederholungen mit ebenso gutem Recht,
wie der poetische an der rhythmisirten Mathematik sich ärgert,
die einen groſsen Theil des Gedichtes geradezu unlesbar macht.
Trotz dieser unglaublichen Mängel, denen jedes mittelmäſsige
Talent unvermeidlich hätte erliegen müssen, durfte dieser Dich-
ter mit Recht sich rühmen aus der poetischen Wildniſs einen
neuen Kranz davongetragen zu haben, wie keinen noch die Mu-
sen verliehen hatten; und es sind auch keineswegs bloſs die ge-
legentlichen Gleichnisse und sonstigen eingelegten Schilderungen
mächtiger Naturerscheinungen und mächtigerer Leidenschaften,
die dem Dichter diesen Kranz erwarben. Die Genialität der Le-
bensanschauung wie der Poesie des Lucretius ruht auf seinem
Unglauben, welcher mit der vollen Siegeskraft der Wahrheit und

Armeen vernichtenden Seestürme, die das eigene Heer verderbenden Ele-
phantenschaaren, also Bilder aus den punischen Kriegen, erscheinen als
gehörten sie der unmittelbaren Gegenwart an. Vgl. 2, 41. 5, 1226. 1303.
1339.
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[550/0560] FÜNFTES BUCH. KAPITEL XII. Gemüth anmuthig quillende‘ Gesang den gemeinen Liedern ge- genüber ‚wie gegen das Geschrei der Kraniche das kurze Lied des Schwanes‘; auch ihm schwillt das Herz, den selbsterfunde- nen Melodien lauschend, von hoher Ehren Hoffnung — eben wie Ennius den Menschen, denen er ‚geschöpft aus tiefer Brust des Liedes Flammenborn‘, verbietet an seinem des unsterblichen Sängers Grabe zu trauern. — Es ist ein seltsames Verhängniſs, daſs dieses ungemeine an ursprünglicher poetischer Begabung den meisten, wo nicht allen seinen Vorgängern weit überlegene Talent in eine Zeit gefallen war, in der es selber sich fremd und verwaist fühlte und in Folge dessen in der wunderlichsten Weise sich im Stoffe vergriffen hat. Epikuros System, welches das All in einen groſsen Atomenwirbel verwandelt und die Entstehung und das Ende der Welt so wie alle Probleme der Natur und des Lebens in rein mechanistischer Weise abzuwickeln unternimmt, war wohl etwas weniger albern als die Mythenhistorisirung, wie Euhemeros und nach ihm Ennius sie versucht hatten; aber ein geistreiches und frisches System war es nicht und die Aufgabe nun gar diese mechanistischer Weltanschauung poetisch zu ent- wickeln war von der Art, daſs wohl nie ein Dichter an einen un- dankbareren Stoff Leben und Kunst verschwendet hat. Der phi- losophische Leser tadelt an dem lucretischen Lehrgedicht die Weglassung der feineren Pointen, die Oberflächlichkeit nament- lich in der Darstellung der Controversen, die mangelhafte Glie- derung, die häufigen Wiederholungen mit ebenso gutem Recht, wie der poetische an der rhythmisirten Mathematik sich ärgert, die einen groſsen Theil des Gedichtes geradezu unlesbar macht. Trotz dieser unglaublichen Mängel, denen jedes mittelmäſsige Talent unvermeidlich hätte erliegen müssen, durfte dieser Dich- ter mit Recht sich rühmen aus der poetischen Wildniſs einen neuen Kranz davongetragen zu haben, wie keinen noch die Mu- sen verliehen hatten; und es sind auch keineswegs bloſs die ge- legentlichen Gleichnisse und sonstigen eingelegten Schilderungen mächtiger Naturerscheinungen und mächtigerer Leidenschaften, die dem Dichter diesen Kranz erwarben. Die Genialität der Le- bensanschauung wie der Poesie des Lucretius ruht auf seinem Unglauben, welcher mit der vollen Siegeskraft der Wahrheit und ** ** Armeen vernichtenden Seestürme, die das eigene Heer verderbenden Ele- phantenschaaren, also Bilder aus den punischen Kriegen, erscheinen als gehörten sie der unmittelbaren Gegenwart an. Vgl. 2, 41. 5, 1226. 1303. 1339.

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856, S. 550. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische03_1856/560>, abgerufen am 22.11.2024.