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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856.

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FÜNFTES BUCH. KAPITEL XI.
nichtet und glich zuletzt nicht mehr einem ernstlichen Rechts-
handel, sondern einer mit Gunst, Gold und Gewalt geschlagenen
Cliquenschlacht. Die Schuld lag an allen Betheiligten zugleich, an
den Beamten, der Jury, den Parteien, sogar dem Zuschauer-
publicum; aber die unheilbarsten Wunden schlug dem Rechte
das Treiben der Advocaten. Indem die Schmarotzerpflanze der
römischen Advocatenberedsamkeit gedieh, wurden alle positiven
Rechtsbegriffe zersetzt und der dem Publicum so schwer ein-
leuchtende Unterschied zwischen Meinung und Beweis aus der rö-
mischen Criminalpraxis recht eigentlich ausgetrieben. ,Ein recht
schlechter Angeklagter, sagt ein vielerfahrener römischer Advocat
dieser Zeit, kann auf jedes beliebige Verbrechen, das er begangen
oder nicht begangen hat, angeklagt werden und wird sicher ver-
urtheilt'. Es sind aus dieser Epoche zahlreiche Plaidoyers in Cri-
minalsachen erhalten; kaum eines ist darunter, das auch nur
ernstlich versuchte das fragliche Verbrechen zu formuliren und
den Beweis oder Gegenbeweis zu entwickeln. Dass der gleichzei-
tige Civilprozess ebenfalls vielfach ungesund war, bedarf kaum der
Erwähnung; auch er litt unter den Folgen der in alles sich men-
genden Parteipolitik, wie denn zum Beispiel in dem Prozess des
Publius Quinctius 671--673 die widersprechendsten Entschei-
dungen fielen, je nachdem Cinna oder Sulla in Rom die Oberhand
hatte, und die Anwälte, häufig Nichtjuristen, stifteten auch hier
absichtlich und unabsichtlich Verwirrung genug. Aber es lag
doch in der Natur der Sache, dass theils die Partei hier nur aus-
nahmsweise sich einmengte, theils die Advocatenrabulistik nicht
so rasch und nicht so tief die Rechtsbegriffe aufzulösen ver-
mochte; wie denn auch die Civilplaidoyers, die wir aus dieser
Epoche besitzen, zwar nicht nach unsern strengeren Begriffen
gute Advocatenschriften, aber doch weit weniger libellistischen
und weit mehr juristischen Inhalts sind als die gleichzeitigen Cri-
minalreden. Es war wohl viel gewonnen, wenn besser gewählte
und besser beaufsichtigte Beamte und Geschworne ernannt wur-
den, wenn die handgreifliche Bestechung und Einschüchterung
der Gerichte verschwand und der Advocatenberedsamkeit der von
Pompeius ihr angelegte Maulkorb (S. 308) belassen oder gar
noch verschärft ward; aber das heilige Rechtsgefühl und die Ehr-
furcht vor dem Gesetz, schwer in den Gemüthern der Menge zu
zerrütten, sind schwerer noch wieder zu erzeugen. Wie auch der
Gesetzgeber die geringen Uebelstände niederwarf, den Grund-
schaden vermochte er nicht zu heilen; und man durfte zweifeln,
ob die Zeit, die alles Heilbare heilt, hier Hülfe bringen werde.


FÜNFTES BUCH. KAPITEL XI.
nichtet und glich zuletzt nicht mehr einem ernstlichen Rechts-
handel, sondern einer mit Gunst, Gold und Gewalt geschlagenen
Cliquenschlacht. Die Schuld lag an allen Betheiligten zugleich, an
den Beamten, der Jury, den Parteien, sogar dem Zuschauer-
publicum; aber die unheilbarsten Wunden schlug dem Rechte
das Treiben der Advocaten. Indem die Schmarotzerpflanze der
römischen Advocatenberedsamkeit gedieh, wurden alle positiven
Rechtsbegriffe zersetzt und der dem Publicum so schwer ein-
leuchtende Unterschied zwischen Meinung und Beweis aus der rö-
mischen Criminalpraxis recht eigentlich ausgetrieben. ‚Ein recht
schlechter Angeklagter, sagt ein vielerfahrener römischer Advocat
dieser Zeit, kann auf jedes beliebige Verbrechen, das er begangen
oder nicht begangen hat, angeklagt werden und wird sicher ver-
urtheilt‘. Es sind aus dieser Epoche zahlreiche Plaidoyers in Cri-
minalsachen erhalten; kaum eines ist darunter, das auch nur
ernstlich versuchte das fragliche Verbrechen zu formuliren und
den Beweis oder Gegenbeweis zu entwickeln. Daſs der gleichzei-
tige Civilprozeſs ebenfalls vielfach ungesund war, bedarf kaum der
Erwähnung; auch er litt unter den Folgen der in alles sich men-
genden Parteipolitik, wie denn zum Beispiel in dem Prozeſs des
Publius Quinctius 671—673 die widersprechendsten Entschei-
dungen fielen, je nachdem Cinna oder Sulla in Rom die Oberhand
hatte, und die Anwälte, häufig Nichtjuristen, stifteten auch hier
absichtlich und unabsichtlich Verwirrung genug. Aber es lag
doch in der Natur der Sache, daſs theils die Partei hier nur aus-
nahmsweise sich einmengte, theils die Advocatenrabulistik nicht
so rasch und nicht so tief die Rechtsbegriffe aufzulösen ver-
mochte; wie denn auch die Civilplaidoyers, die wir aus dieser
Epoche besitzen, zwar nicht nach unsern strengeren Begriffen
gute Advocatenschriften, aber doch weit weniger libellistischen
und weit mehr juristischen Inhalts sind als die gleichzeitigen Cri-
minalreden. Es war wohl viel gewonnen, wenn besser gewählte
und besser beaufsichtigte Beamte und Geschworne ernannt wur-
den, wenn die handgreifliche Bestechung und Einschüchterung
der Gerichte verschwand und der Advocatenberedsamkeit der von
Pompeius ihr angelegte Maulkorb (S. 308) belassen oder gar
noch verschärft ward; aber das heilige Rechtsgefühl und die Ehr-
furcht vor dem Gesetz, schwer in den Gemüthern der Menge zu
zerrütten, sind schwerer noch wieder zu erzeugen. Wie auch der
Gesetzgeber die geringen Uebelstände niederwarf, den Grund-
schaden vermochte er nicht zu heilen; und man durfte zweifeln,
ob die Zeit, die alles Heilbare heilt, hier Hülfe bringen werde.


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[460/0470] FÜNFTES BUCH. KAPITEL XI. nichtet und glich zuletzt nicht mehr einem ernstlichen Rechts- handel, sondern einer mit Gunst, Gold und Gewalt geschlagenen Cliquenschlacht. Die Schuld lag an allen Betheiligten zugleich, an den Beamten, der Jury, den Parteien, sogar dem Zuschauer- publicum; aber die unheilbarsten Wunden schlug dem Rechte das Treiben der Advocaten. Indem die Schmarotzerpflanze der römischen Advocatenberedsamkeit gedieh, wurden alle positiven Rechtsbegriffe zersetzt und der dem Publicum so schwer ein- leuchtende Unterschied zwischen Meinung und Beweis aus der rö- mischen Criminalpraxis recht eigentlich ausgetrieben. ‚Ein recht schlechter Angeklagter, sagt ein vielerfahrener römischer Advocat dieser Zeit, kann auf jedes beliebige Verbrechen, das er begangen oder nicht begangen hat, angeklagt werden und wird sicher ver- urtheilt‘. Es sind aus dieser Epoche zahlreiche Plaidoyers in Cri- minalsachen erhalten; kaum eines ist darunter, das auch nur ernstlich versuchte das fragliche Verbrechen zu formuliren und den Beweis oder Gegenbeweis zu entwickeln. Daſs der gleichzei- tige Civilprozeſs ebenfalls vielfach ungesund war, bedarf kaum der Erwähnung; auch er litt unter den Folgen der in alles sich men- genden Parteipolitik, wie denn zum Beispiel in dem Prozeſs des Publius Quinctius 671—673 die widersprechendsten Entschei- dungen fielen, je nachdem Cinna oder Sulla in Rom die Oberhand hatte, und die Anwälte, häufig Nichtjuristen, stifteten auch hier absichtlich und unabsichtlich Verwirrung genug. Aber es lag doch in der Natur der Sache, daſs theils die Partei hier nur aus- nahmsweise sich einmengte, theils die Advocatenrabulistik nicht so rasch und nicht so tief die Rechtsbegriffe aufzulösen ver- mochte; wie denn auch die Civilplaidoyers, die wir aus dieser Epoche besitzen, zwar nicht nach unsern strengeren Begriffen gute Advocatenschriften, aber doch weit weniger libellistischen und weit mehr juristischen Inhalts sind als die gleichzeitigen Cri- minalreden. Es war wohl viel gewonnen, wenn besser gewählte und besser beaufsichtigte Beamte und Geschworne ernannt wur- den, wenn die handgreifliche Bestechung und Einschüchterung der Gerichte verschwand und der Advocatenberedsamkeit der von Pompeius ihr angelegte Maulkorb (S. 308) belassen oder gar noch verschärft ward; aber das heilige Rechtsgefühl und die Ehr- furcht vor dem Gesetz, schwer in den Gemüthern der Menge zu zerrütten, sind schwerer noch wieder zu erzeugen. Wie auch der Gesetzgeber die geringen Uebelstände niederwarf, den Grund- schaden vermochte er nicht zu heilen; und man durfte zweifeln, ob die Zeit, die alles Heilbare heilt, hier Hülfe bringen werde.

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856, S. 460. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische03_1856/470>, abgerufen am 18.12.2024.