Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856.FÜNFTES BUCH. KAPITEL VIII. alter oder neuer Zeit alle verschiedensten politischen Functionenund Organisationen rein und normal dargestellt hat, so erscheint in ihm auch die politische Desorganisation, die Anarchie in einer nicht beneidenswerthen Schärfe. Es ist ein seltsames Zusammen- treffen, dass in denselben Jahren, in welchen Caesar jenseit der Alpen ein Werk für die Ewigkeit schuf, in Rom eine der tollsten politischen Grotesken aufgeführt ward, die jemals über die Bretter der Weltgeschichte gegangen ist. Der neue Regent des Gemein- wesens regierte nicht, sondern schloss in sein Haus sich ein und maulte im Stillen. Die ehemalige halb abgesetzte Regierung re- gierte gleichfalls nicht, sondern seufzte, bald einzeln in den trau- lichen Zirkeln der Villen, bald in der Curie im Chor. Der Theil der Bürgerschaft, dem Freiheit und Ordnung noch am Herzen lagen, war des wüsten Treibens übersatt, aber völlig führer- und rathlos verharrte er in nichtiger Passivität und mied nicht bloss jede politische Thätigkeit, sondern, so weit es anging, das poli- tische Sodom selbst. Dagegen das Gesindel aller Art hatte nie bessere Tage, nie lustigere Tummelplätze gehabt. Die Zahl der kleinen grossen Männer war Legion. Die Demagogie ward völlig zum Handwerk, dem denn auch das Handwerkszeug nicht fehlte: der verschabte Mantel, der verwilderte Bart, das langflatternde Haar, die tiefe Bassstimme; und nicht selten war es ein Handwerk mit goldenem Boden. In den öffentlichen Versammlungen waren Griechen und Juden, Freigelassene und Sclaven die regelmässig- sten Besucher und die lautesten Schreier; selbst wenn es zum Stimmen ging, bestand häufig nur der kleinere Theil der Stim- menden aus verfassungsmässig stimmberechtigten Bürgern. ,Näch- stens', heisst es in einem Briefe aus dieser Zeit, ,können wir er- warten, dass unsere Lakaien die Freilassungssteuer abvotiren'. Die eigentlichen Mächte des Tages waren die geschlossenen und bewaffneten Banden, die aus fechtgewohnten Sclaven und Lum- pen zusammengesetzten von vornehmen Abenteurern aufgestell- ten Bataillone der Anarchie. Ihre Inhaber zählten von Haus aus meistentheils zur Popularpartei; aber seit Caesars Entfernung, der dieser Partei allein zu imponiren und allein sie zu lenken verstanden hatte, war aus derselben alle Disciplin entwichen und jeder Parteigänger machte Politik auf seine eigene Hand. Am liebsten freilich fochten diese Leute auch jetzt noch unter dem demokratischen Panier; aber genau genommen waren sie weder demokratisch noch antidemokratisch gesinnt, sondern schrieben auf die einmal unentbehrliche Fahne, wie es fiel, bald das Volk, bald statt des Volksnamens den Namen des Senats oder den FÜNFTES BUCH. KAPITEL VIII. alter oder neuer Zeit alle verschiedensten politischen Functionenund Organisationen rein und normal dargestellt hat, so erscheint in ihm auch die politische Desorganisation, die Anarchie in einer nicht beneidenswerthen Schärfe. Es ist ein seltsames Zusammen- treffen, daſs in denselben Jahren, in welchen Caesar jenseit der Alpen ein Werk für die Ewigkeit schuf, in Rom eine der tollsten politischen Grotesken aufgeführt ward, die jemals über die Bretter der Weltgeschichte gegangen ist. Der neue Regent des Gemein- wesens regierte nicht, sondern schloſs in sein Haus sich ein und maulte im Stillen. Die ehemalige halb abgesetzte Regierung re- gierte gleichfalls nicht, sondern seufzte, bald einzeln in den trau- lichen Zirkeln der Villen, bald in der Curie im Chor. Der Theil der Bürgerschaft, dem Freiheit und Ordnung noch am Herzen lagen, war des wüsten Treibens übersatt, aber völlig führer- und rathlos verharrte er in nichtiger Passivität und mied nicht bloſs jede politische Thätigkeit, sondern, so weit es anging, das poli- tische Sodom selbst. Dagegen das Gesindel aller Art hatte nie bessere Tage, nie lustigere Tummelplätze gehabt. Die Zahl der kleinen groſsen Männer war Legion. Die Demagogie ward völlig zum Handwerk, dem denn auch das Handwerkszeug nicht fehlte: der verschabte Mantel, der verwilderte Bart, das langflatternde Haar, die tiefe Baſsstimme; und nicht selten war es ein Handwerk mit goldenem Boden. In den öffentlichen Versammlungen waren Griechen und Juden, Freigelassene und Sclaven die regelmäſsig- sten Besucher und die lautesten Schreier; selbst wenn es zum Stimmen ging, bestand häufig nur der kleinere Theil der Stim- menden aus verfassungsmäſsig stimmberechtigten Bürgern. ‚Näch- stens‘, heiſst es in einem Briefe aus dieser Zeit, ‚können wir er- warten, daſs unsere Lakaien die Freilassungssteuer abvotiren‘. Die eigentlichen Mächte des Tages waren die geschlossenen und bewaffneten Banden, die aus fechtgewohnten Sclaven und Lum- pen zusammengesetzten von vornehmen Abenteurern aufgestell- ten Bataillone der Anarchie. Ihre Inhaber zählten von Haus aus meistentheils zur Popularpartei; aber seit Caesars Entfernung, der dieser Partei allein zu imponiren und allein sie zu lenken verstanden hatte, war aus derselben alle Disciplin entwichen und jeder Parteigänger machte Politik auf seine eigene Hand. Am liebsten freilich fochten diese Leute auch jetzt noch unter dem demokratischen Panier; aber genau genommen waren sie weder demokratisch noch antidemokratisch gesinnt, sondern schrieben auf die einmal unentbehrliche Fahne, wie es fiel, bald das Volk, bald statt des Volksnamens den Namen des Senats oder den <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0290" n="280"/><fw place="top" type="header">FÜNFTES BUCH. KAPITEL VIII.</fw><lb/> alter oder neuer Zeit alle verschiedensten politischen Functionen<lb/> und Organisationen rein und normal dargestellt hat, so erscheint<lb/> in ihm auch die politische Desorganisation, die Anarchie in einer<lb/> nicht beneidenswerthen Schärfe. Es ist ein seltsames Zusammen-<lb/> treffen, daſs in denselben Jahren, in welchen Caesar jenseit der<lb/> Alpen ein Werk für die Ewigkeit schuf, in Rom eine der tollsten<lb/> politischen Grotesken aufgeführt ward, die jemals über die Bretter<lb/> der Weltgeschichte gegangen ist. 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FÜNFTES BUCH. KAPITEL VIII.
alter oder neuer Zeit alle verschiedensten politischen Functionen
und Organisationen rein und normal dargestellt hat, so erscheint
in ihm auch die politische Desorganisation, die Anarchie in einer
nicht beneidenswerthen Schärfe. Es ist ein seltsames Zusammen-
treffen, daſs in denselben Jahren, in welchen Caesar jenseit der
Alpen ein Werk für die Ewigkeit schuf, in Rom eine der tollsten
politischen Grotesken aufgeführt ward, die jemals über die Bretter
der Weltgeschichte gegangen ist. Der neue Regent des Gemein-
wesens regierte nicht, sondern schloſs in sein Haus sich ein und
maulte im Stillen. Die ehemalige halb abgesetzte Regierung re-
gierte gleichfalls nicht, sondern seufzte, bald einzeln in den trau-
lichen Zirkeln der Villen, bald in der Curie im Chor. Der Theil
der Bürgerschaft, dem Freiheit und Ordnung noch am Herzen
lagen, war des wüsten Treibens übersatt, aber völlig führer- und
rathlos verharrte er in nichtiger Passivität und mied nicht bloſs
jede politische Thätigkeit, sondern, so weit es anging, das poli-
tische Sodom selbst. Dagegen das Gesindel aller Art hatte nie
bessere Tage, nie lustigere Tummelplätze gehabt. Die Zahl der
kleinen groſsen Männer war Legion. Die Demagogie ward völlig
zum Handwerk, dem denn auch das Handwerkszeug nicht fehlte:
der verschabte Mantel, der verwilderte Bart, das langflatternde
Haar, die tiefe Baſsstimme; und nicht selten war es ein Handwerk
mit goldenem Boden. In den öffentlichen Versammlungen waren
Griechen und Juden, Freigelassene und Sclaven die regelmäſsig-
sten Besucher und die lautesten Schreier; selbst wenn es zum
Stimmen ging, bestand häufig nur der kleinere Theil der Stim-
menden aus verfassungsmäſsig stimmberechtigten Bürgern. ‚Näch-
stens‘, heiſst es in einem Briefe aus dieser Zeit, ‚können wir er-
warten, daſs unsere Lakaien die Freilassungssteuer abvotiren‘.
Die eigentlichen Mächte des Tages waren die geschlossenen und
bewaffneten Banden, die aus fechtgewohnten Sclaven und Lum-
pen zusammengesetzten von vornehmen Abenteurern aufgestell-
ten Bataillone der Anarchie. Ihre Inhaber zählten von Haus aus
meistentheils zur Popularpartei; aber seit Caesars Entfernung,
der dieser Partei allein zu imponiren und allein sie zu lenken
verstanden hatte, war aus derselben alle Disciplin entwichen und
jeder Parteigänger machte Politik auf seine eigene Hand. Am
liebsten freilich fochten diese Leute auch jetzt noch unter dem
demokratischen Panier; aber genau genommen waren sie weder
demokratisch noch antidemokratisch gesinnt, sondern schrieben
auf die einmal unentbehrliche Fahne, wie es fiel, bald das Volk,
bald statt des Volksnamens den Namen des Senats oder den
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