Der kluge Rechner hatte diesmal sich verrechnet. Das Feuer war gedämpft, aber nicht gelöscht. Den Streich, unter dem Ac- cos Haupt fiel, fühlte der ganze keltische Adel. Eben jetzt bot die Lage der Dinge mehr Aussicht als je. Die Insurrection des letzten Winters war offenbar nur daran gescheitert, dass Caesar selbst auf den Kampfplatz erschienen war; jetzt war er fern, durch den nahe bevorstehenden Bürgerkrieg festgehalten am Po, und das gallische Heer, das an der oberen Seine und Marne zusammengezo- gen stand, weit getrennt von dem gefürchteten Feldherrn. Wenn jetzt eine allgemeine Insurrection in Mittelgallien ausbrach, so konnte die fast unvertheidigte altrömische Provinz von ihr über- schwemmt sein, bevor Caesar wieder jenseit der Alpen stand, selbst wenn die italischen Verwicklungen nicht überhaupt ihn abhielten sich ferner um Gallien zu kümmern. Die Carnuten, als durch Accos Hinrichtung zunächst betroffen, erboten sich vor- anzugehen: an dem festgesetzten Tage im Winter 701/2 gaben die carnutischen Ritter Gutruatus und Conconnetodumnus in Genabum (Orleans) das Zeichen zur Insurrection und machten die daselbst anwesenden Römer insgesammt nieder. Die gewal- tigste Bewegung ergriff das ganze grosse Keltenland; überall er- hoben sich die Patrioten. Nichts aber ergriff so tief die Nation wie die Schilderhebung der Arverner. Die Regierung dieser Ge- meinde, die einst unter ihren Königen die erste im südlichen Gal- lien gewesen und noch nach ihrem durch die unglücklichen Kriege gegen Rom (II, 156) herbeigeführten Sturze eine der reichsten, gebildetsten und mächtigsten in ganz Gallien geblieben war, hatte bisher unverbrüchlich zu Rom gehalten. Auch jetzt war in dem regierenden Gemeinderath die Patriotenpartei in der Minorität; ein Versuch den Rath zum Beitritt zu der Insurrection zu bestim- men war vergeblich. Man erinnerte sich, dass die Verfassungs- änderung, die bei den Arvernern den Gemeinderath an die Stelle des Fürsten gesetzt hatte (S. 213), nach dem Siege der Römer und wahrscheinlich unter dem Einfluss derselben erfolgt war. Die Angriffe der Patrioten richteten sich gegen den Gemeinderath und die bestehende Verfassung selbst. Der Führer der arverni- schen Patrioten Vercingetorix, einer jener Adlichen, wie sie wohl bei den Kelten begegnen, von fast königlichem Ansehen in und ausser seinem Gau, dazu ein stattlicher, tapferer, kluger Mann, verliess die Hauptstadt und rief das Landvolk, das der herr- schenden Oligarchie ebenso wie den Römern abgeneigt war, zu- gleich zur Wiederherstellung des arvernischen Königthums und zum Krieg gegen Rom auf. Rasch fiel die Menge ihm zu; die
FÜNFTES BUCH. KAPITEL VII.
Der kluge Rechner hatte diesmal sich verrechnet. Das Feuer war gedämpft, aber nicht gelöscht. Den Streich, unter dem Ac- cos Haupt fiel, fühlte der ganze keltische Adel. Eben jetzt bot die Lage der Dinge mehr Aussicht als je. Die Insurrection des letzten Winters war offenbar nur daran gescheitert, daſs Caesar selbst auf den Kampfplatz erschienen war; jetzt war er fern, durch den nahe bevorstehenden Bürgerkrieg festgehalten am Po, und das gallische Heer, das an der oberen Seine und Marne zusammengezo- gen stand, weit getrennt von dem gefürchteten Feldherrn. Wenn jetzt eine allgemeine Insurrection in Mittelgallien ausbrach, so konnte die fast unvertheidigte altrömische Provinz von ihr über- schwemmt sein, bevor Caesar wieder jenseit der Alpen stand, selbst wenn die italischen Verwicklungen nicht überhaupt ihn abhielten sich ferner um Gallien zu kümmern. Die Carnuten, als durch Accos Hinrichtung zunächst betroffen, erboten sich vor- anzugehen: an dem festgesetzten Tage im Winter 701/2 gaben die carnutischen Ritter Gutruatus und Conconnetodumnus in Genabum (Orleans) das Zeichen zur Insurrection und machten die daselbst anwesenden Römer insgesammt nieder. Die gewal- tigste Bewegung ergriff das ganze groſse Keltenland; überall er- hoben sich die Patrioten. Nichts aber ergriff so tief die Nation wie die Schilderhebung der Arverner. Die Regierung dieser Ge- meinde, die einst unter ihren Königen die erste im südlichen Gal- lien gewesen und noch nach ihrem durch die unglücklichen Kriege gegen Rom (II, 156) herbeigeführten Sturze eine der reichsten, gebildetsten und mächtigsten in ganz Gallien geblieben war, hatte bisher unverbrüchlich zu Rom gehalten. Auch jetzt war in dem regierenden Gemeinderath die Patriotenpartei in der Minorität; ein Versuch den Rath zum Beitritt zu der Insurrection zu bestim- men war vergeblich. Man erinnerte sich, daſs die Verfassungs- änderung, die bei den Arvernern den Gemeinderath an die Stelle des Fürsten gesetzt hatte (S. 213), nach dem Siege der Römer und wahrscheinlich unter dem Einfluſs derselben erfolgt war. Die Angriffe der Patrioten richteten sich gegen den Gemeinderath und die bestehende Verfassung selbst. Der Führer der arverni- schen Patrioten Vercingetorix, einer jener Adlichen, wie sie wohl bei den Kelten begegnen, von fast königlichem Ansehen in und auſser seinem Gau, dazu ein stattlicher, tapferer, kluger Mann, verlieſs die Hauptstadt und rief das Landvolk, das der herr- schenden Oligarchie ebenso wie den Römern abgeneigt war, zu- gleich zur Wiederherstellung des arvernischen Königthums und zum Krieg gegen Rom auf. Rasch fiel die Menge ihm zu; die
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FÜNFTES BUCH. KAPITEL VII.
Der kluge Rechner hatte diesmal sich verrechnet. Das Feuer
war gedämpft, aber nicht gelöscht. Den Streich, unter dem Ac-
cos Haupt fiel, fühlte der ganze keltische Adel. Eben jetzt bot
die Lage der Dinge mehr Aussicht als je. Die Insurrection des
letzten Winters war offenbar nur daran gescheitert, daſs Caesar
selbst auf den Kampfplatz erschienen war; jetzt war er fern, durch
den nahe bevorstehenden Bürgerkrieg festgehalten am Po, und das
gallische Heer, das an der oberen Seine und Marne zusammengezo-
gen stand, weit getrennt von dem gefürchteten Feldherrn. Wenn
jetzt eine allgemeine Insurrection in Mittelgallien ausbrach, so
konnte die fast unvertheidigte altrömische Provinz von ihr über-
schwemmt sein, bevor Caesar wieder jenseit der Alpen stand,
selbst wenn die italischen Verwicklungen nicht überhaupt ihn
abhielten sich ferner um Gallien zu kümmern. Die Carnuten, als
durch Accos Hinrichtung zunächst betroffen, erboten sich vor-
anzugehen: an dem festgesetzten Tage im Winter 701/2 gaben
die carnutischen Ritter Gutruatus und Conconnetodumnus in
Genabum (Orleans) das Zeichen zur Insurrection und machten
die daselbst anwesenden Römer insgesammt nieder. Die gewal-
tigste Bewegung ergriff das ganze groſse Keltenland; überall er-
hoben sich die Patrioten. Nichts aber ergriff so tief die Nation
wie die Schilderhebung der Arverner. Die Regierung dieser Ge-
meinde, die einst unter ihren Königen die erste im südlichen Gal-
lien gewesen und noch nach ihrem durch die unglücklichen Kriege
gegen Rom (II, 156) herbeigeführten Sturze eine der reichsten,
gebildetsten und mächtigsten in ganz Gallien geblieben war, hatte
bisher unverbrüchlich zu Rom gehalten. Auch jetzt war in dem
regierenden Gemeinderath die Patriotenpartei in der Minorität;
ein Versuch den Rath zum Beitritt zu der Insurrection zu bestim-
men war vergeblich. Man erinnerte sich, daſs die Verfassungs-
änderung, die bei den Arvernern den Gemeinderath an die Stelle
des Fürsten gesetzt hatte (S. 213), nach dem Siege der Römer
und wahrscheinlich unter dem Einfluſs derselben erfolgt war.
Die Angriffe der Patrioten richteten sich gegen den Gemeinderath
und die bestehende Verfassung selbst. Der Führer der arverni-
schen Patrioten Vercingetorix, einer jener Adlichen, wie sie wohl
bei den Kelten begegnen, von fast königlichem Ansehen in und
auſser seinem Gau, dazu ein stattlicher, tapferer, kluger Mann,
verlieſs die Hauptstadt und rief das Landvolk, das der herr-
schenden Oligarchie ebenso wie den Römern abgeneigt war, zu-
gleich zur Wiederherstellung des arvernischen Königthums und
zum Krieg gegen Rom auf. Rasch fiel die Menge ihm zu; die
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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische03_1856/264>, abgerufen am 27.11.2024.
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