Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856.DIE UNTERWERFUNG DES WESTENS. als Geisseln zu stellen, endlich eidlich versprechen weder dieseGeisseln je zurückzufordern noch die Intervention der Römer anzurufen. Dieser Friede ward, wie es scheint, um 693 ge- schlossen.* Ehre und Vortheil geboten den Römern dagegen auf- zutreten; der vornehme Haeduer Divitiacus, das Haupt der römi- schen Partei in seinem Clan und darum jetzt von seinen Lands- leuten verbannt, ging persönlich nach Rom um ihre Dazwischen- kunft zu erbitten; eine noch ernstere Warnung war der Aufstand der Allobrogen 693 (S. 205), der Nachbarn der Sequaner, wel- cher ohne Zweifel mit diesen Ereignissen zusammenhing. In der That ergingen Befehle an die gallischen Statthalter den Haeduern beizustehen; man sprach davon Consuln und consularische Ar- meen über die Alpen zu senden; allein schliesslich verleugnete der Senat, an den diese Angelegenheiten zunächst zur Entschei- dung kamen, sich auch hier nicht: die allobrogische Insurrection ward mit den Waffen unterdrückt, für die Haeduer aber geschah nicht nur nichts, sondern es ward sogar Ariovist im J. 695 in das Verzeichniss der den Römern befreundeten Könige einge- schrieben.** Der deutsche Kriegsfürst nahm dies begreiflicher Weise als Verzicht der Römer auf das noch nicht von ihnen ein- genommene Keltenland; er richtete demgemäss sich hier häuslich ein und fing an auf gallischem Boden ein deutsches Fürstenthum zu begründen. Die zahlreichen Haufen, die er mitgebracht hatte, die noch zahlreicheren, die auf seinen Ruf später aus der Heimath nachkamen -- man rechnete, dass bis zum J. 696 bis 120000 Deutsche den Rhein überschritten -- diese ganze gewaltige Ein- wanderung der deutschen Nation, welche durch die einmal geöff- neten Schleusen stromweise über den schönen Westen sich ergoss, gedachte er daselbst ansässig zu machen und auf dieser Grundlage seine Herrschaft über das Keltenland aufzubauen. Der Umfang der von ihm am linken Rheinufer ins Leben gerufenen deutschen Ansiedlungen lässt sich nicht bestimmen; ohne Zweifel reichte er weit und noch viel weiter seine Entwürfe. Die Kelten wurden * Ariovists Ankunft in Gallien ist nach Caesar 1, 36 auf 683, die Schlacht von Admagetobriga nach Caesar 1, 35 und Cicero ad Att. 1, 19 auf 693 gesetzt worden. ** Um diesen Hergang der Dinge nicht unglaublich zu finden oder dem- selben gar tiefere Motive unterzulegen als staatsmännische Unwissenheit und Faulheit sind, wird man wohl thun den leichtfertigen Ton sich zu ver- gegenwärtigen, in dem ein angesehener Senator wie Cicero in seiner Cor- respondenz sich über diese wichtigen transalpinischen Angelegenheiten auslässt. Röm. Gesch. III. 15
DIE UNTERWERFUNG DES WESTENS. als Geiſseln zu stellen, endlich eidlich versprechen weder dieseGeiſseln je zurückzufordern noch die Intervention der Römer anzurufen. Dieser Friede ward, wie es scheint, um 693 ge- schlossen.* Ehre und Vortheil geboten den Römern dagegen auf- zutreten; der vornehme Haeduer Divitiacus, das Haupt der römi- schen Partei in seinem Clan und darum jetzt von seinen Lands- leuten verbannt, ging persönlich nach Rom um ihre Dazwischen- kunft zu erbitten; eine noch ernstere Warnung war der Aufstand der Allobrogen 693 (S. 205), der Nachbarn der Sequaner, wel- cher ohne Zweifel mit diesen Ereignissen zusammenhing. In der That ergingen Befehle an die gallischen Statthalter den Haeduern beizustehen; man sprach davon Consuln und consularische Ar- meen über die Alpen zu senden; allein schlieſslich verleugnete der Senat, an den diese Angelegenheiten zunächst zur Entschei- dung kamen, sich auch hier nicht: die allobrogische Insurrection ward mit den Waffen unterdrückt, für die Haeduer aber geschah nicht nur nichts, sondern es ward sogar Ariovist im J. 695 in das Verzeichniſs der den Römern befreundeten Könige einge- schrieben.** Der deutsche Kriegsfürst nahm dies begreiflicher Weise als Verzicht der Römer auf das noch nicht von ihnen ein- genommene Keltenland; er richtete demgemäſs sich hier häuslich ein und fing an auf gallischem Boden ein deutsches Fürstenthum zu begründen. Die zahlreichen Haufen, die er mitgebracht hatte, die noch zahlreicheren, die auf seinen Ruf später aus der Heimath nachkamen — man rechnete, daſs bis zum J. 696 bis 120000 Deutsche den Rhein überschritten — diese ganze gewaltige Ein- wanderung der deutschen Nation, welche durch die einmal geöff- neten Schleusen stromweise über den schönen Westen sich ergoſs, gedachte er daselbst ansässig zu machen und auf dieser Grundlage seine Herrschaft über das Keltenland aufzubauen. Der Umfang der von ihm am linken Rheinufer ins Leben gerufenen deutschen Ansiedlungen läſst sich nicht bestimmen; ohne Zweifel reichte er weit und noch viel weiter seine Entwürfe. Die Kelten wurden * Ariovists Ankunft in Gallien ist nach Caesar 1, 36 auf 683, die Schlacht von Admagetobriga nach Caesar 1, 35 und Cicero ad Att. 1, 19 auf 693 gesetzt worden. ** Um diesen Hergang der Dinge nicht unglaublich zu finden oder dem- selben gar tiefere Motive unterzulegen als staatsmännische Unwissenheit und Faulheit sind, wird man wohl thun den leichtfertigen Ton sich zu ver- gegenwärtigen, in dem ein angesehener Senator wie Cicero in seiner Cor- respondenz sich über diese wichtigen transalpinischen Angelegenheiten ausläſst. Röm. Gesch. III. 15
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DIE UNTERWERFUNG DES WESTENS.
als Geiſseln zu stellen, endlich eidlich versprechen weder diese
Geiſseln je zurückzufordern noch die Intervention der Römer
anzurufen. Dieser Friede ward, wie es scheint, um 693 ge-
schlossen. * Ehre und Vortheil geboten den Römern dagegen auf-
zutreten; der vornehme Haeduer Divitiacus, das Haupt der römi-
schen Partei in seinem Clan und darum jetzt von seinen Lands-
leuten verbannt, ging persönlich nach Rom um ihre Dazwischen-
kunft zu erbitten; eine noch ernstere Warnung war der Aufstand
der Allobrogen 693 (S. 205), der Nachbarn der Sequaner, wel-
cher ohne Zweifel mit diesen Ereignissen zusammenhing. In der
That ergingen Befehle an die gallischen Statthalter den Haeduern
beizustehen; man sprach davon Consuln und consularische Ar-
meen über die Alpen zu senden; allein schlieſslich verleugnete
der Senat, an den diese Angelegenheiten zunächst zur Entschei-
dung kamen, sich auch hier nicht: die allobrogische Insurrection
ward mit den Waffen unterdrückt, für die Haeduer aber geschah
nicht nur nichts, sondern es ward sogar Ariovist im J. 695 in
das Verzeichniſs der den Römern befreundeten Könige einge-
schrieben. ** Der deutsche Kriegsfürst nahm dies begreiflicher
Weise als Verzicht der Römer auf das noch nicht von ihnen ein-
genommene Keltenland; er richtete demgemäſs sich hier häuslich
ein und fing an auf gallischem Boden ein deutsches Fürstenthum
zu begründen. Die zahlreichen Haufen, die er mitgebracht hatte,
die noch zahlreicheren, die auf seinen Ruf später aus der Heimath
nachkamen — man rechnete, daſs bis zum J. 696 bis 120000
Deutsche den Rhein überschritten — diese ganze gewaltige Ein-
wanderung der deutschen Nation, welche durch die einmal geöff-
neten Schleusen stromweise über den schönen Westen sich ergoſs,
gedachte er daselbst ansässig zu machen und auf dieser Grundlage
seine Herrschaft über das Keltenland aufzubauen. Der Umfang
der von ihm am linken Rheinufer ins Leben gerufenen deutschen
Ansiedlungen läſst sich nicht bestimmen; ohne Zweifel reichte er
weit und noch viel weiter seine Entwürfe. Die Kelten wurden
* Ariovists Ankunft in Gallien ist nach Caesar 1, 36 auf 683, die
Schlacht von Admagetobriga nach Caesar 1, 35 und Cicero ad Att. 1, 19
auf 693 gesetzt worden.
** Um diesen Hergang der Dinge nicht unglaublich zu finden oder dem-
selben gar tiefere Motive unterzulegen als staatsmännische Unwissenheit
und Faulheit sind, wird man wohl thun den leichtfertigen Ton sich zu ver-
gegenwärtigen, in dem ein angesehener Senator wie Cicero in seiner Cor-
respondenz sich über diese wichtigen transalpinischen Angelegenheiten
ausläſst.
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