Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856.DIE UNTERWERFUNG DES WESTENS. reich sich als Hörige einem Mächtigen zu eigen gaben. Die Ge-meindeversammlung verlor ihre politische Bedeutung; und auch das Fürstenthum, das den Uebergriffen des Adels hätte steuern sollen, erlag demselben bei den Kelten so gut wie in Latium. An die Stelle des Königs trat der ,Rechtwirker' oder Vergobretus,* der wie der römische Consul nur auf ein Jahr ernannt ward. So weit der Gau überhaupt noch zusammenhielt, ward er durch den Gemeinderath geleitet, in dem natürlich die Häupter der Aristo- kratie die Regierung an sich rissen. Es versteht sich von selbst, dass unter solchen Verhältnissen es in den einzelnen Clans in ganz ähnlicher Weise gährte, wie es in Latium nach der Vertrei- bung der Könige Jahrhunderte lang gegährt hatte: während der Adel der verschiedenen Gemeinden sich zu einem im Grunde re- volutionären Sonderbündniss zusammenthat, hörte die Menge nicht auf die Wiederherstellung des Königthums zu begehren und versuchte nicht selten ein hervorragender Edelmann, wie Spurius Cassius in Rom gethan, gestützt auf den gemeinen Mann, die Macht seiner Standesgenossen zu brechen und die Krone zu sei- nem Besten wieder in ihre Rechte einzusetzen. -- Wenn also die einzelnen Gaue unheilbar hinsiechten, so regte sich wohl daneben mächtig in der Nation das Gefühl der Einheit und suchte in man- cherlei Weise Form und Halt zu gewinnen. Wie die Hellenen in den Kriegen gegen die Perser, die Italiker in denen gegen die Kel- ten, so scheinen die transalpinischen Gallier in den Kriegen gegen Rom des Bestehens und der Macht der nationalen Einheit sich be- wusst geworden zu sein. Unter dem Hader der rivalisirenden Clans und all jenem feudalistischen Gezänk machten doch auch die Stim- men derer sich bemerklich, die die Unabhängigkeit der Nation selbst um den Preis der Selbstständigkeit der einzelnen Gaue und der Ritterschaftsverbände zu erkaufen bereit waren. Wie durch- weg populär die Opposition gegen die Fremdherrschaft war, be- weisen die Kriege Caesars, dem gegenüber die keltische Patrioten- partei eine ganz ähnliche Stellung hatte wie die deutschen Pa- trioten gegen Napoleon: die Telegraphengeschwindigkeit, mit der sie sich Nachrichten mittheilte, zeugt unter anderm für ihre Aus- dehnung und ihre Organisation. Die Allgemeinheit und die Mäch- tigkeit des keltischen Nationalbewusstseins würde unerklärlich sein, wenn nicht bei der grössten politischen Zersplitterung die keltische Nation seit langem religiös und selbst theologisch cen- tralisirt gewesen wäre. Die keltische Priesterschaft oder mit dem * Von den keltischen Wörtern guery = Wirker und breth = Gericht.
DIE UNTERWERFUNG DES WESTENS. reich sich als Hörige einem Mächtigen zu eigen gaben. Die Ge-meindeversammlung verlor ihre politische Bedeutung; und auch das Fürstenthum, das den Uebergriffen des Adels hätte steuern sollen, erlag demselben bei den Kelten so gut wie in Latium. An die Stelle des Königs trat der ‚Rechtwirker‘ oder Vergobretus,* der wie der römische Consul nur auf ein Jahr ernannt ward. So weit der Gau überhaupt noch zusammenhielt, ward er durch den Gemeinderath geleitet, in dem natürlich die Häupter der Aristo- kratie die Regierung an sich rissen. Es versteht sich von selbst, daſs unter solchen Verhältnissen es in den einzelnen Clans in ganz ähnlicher Weise gährte, wie es in Latium nach der Vertrei- bung der Könige Jahrhunderte lang gegährt hatte: während der Adel der verschiedenen Gemeinden sich zu einem im Grunde re- volutionären Sonderbündniſs zusammenthat, hörte die Menge nicht auf die Wiederherstellung des Königthums zu begehren und versuchte nicht selten ein hervorragender Edelmann, wie Spurius Cassius in Rom gethan, gestützt auf den gemeinen Mann, die Macht seiner Standesgenossen zu brechen und die Krone zu sei- nem Besten wieder in ihre Rechte einzusetzen. — Wenn also die einzelnen Gaue unheilbar hinsiechten, so regte sich wohl daneben mächtig in der Nation das Gefühl der Einheit und suchte in man- cherlei Weise Form und Halt zu gewinnen. Wie die Hellenen in den Kriegen gegen die Perser, die Italiker in denen gegen die Kel- ten, so scheinen die transalpinischen Gallier in den Kriegen gegen Rom des Bestehens und der Macht der nationalen Einheit sich be- wuſst geworden zu sein. Unter dem Hader der rivalisirenden Clans und all jenem feudalistischen Gezänk machten doch auch die Stim- men derer sich bemerklich, die die Unabhängigkeit der Nation selbst um den Preis der Selbstständigkeit der einzelnen Gaue und der Ritterschaftsverbände zu erkaufen bereit waren. Wie durch- weg populär die Opposition gegen die Fremdherrschaft war, be- weisen die Kriege Caesars, dem gegenüber die keltische Patrioten- partei eine ganz ähnliche Stellung hatte wie die deutschen Pa- trioten gegen Napoleon: die Telegraphengeschwindigkeit, mit der sie sich Nachrichten mittheilte, zeugt unter anderm für ihre Aus- dehnung und ihre Organisation. Die Allgemeinheit und die Mäch- tigkeit des keltischen Nationalbewuſstseins würde unerklärlich sein, wenn nicht bei der gröſsten politischen Zersplitterung die keltische Nation seit langem religiös und selbst theologisch cen- tralisirt gewesen wäre. Die keltische Priesterschaft oder mit dem * Von den keltischen Wörtern guery = Wirker und breth = Gericht.
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DIE UNTERWERFUNG DES WESTENS.
reich sich als Hörige einem Mächtigen zu eigen gaben. Die Ge-
meindeversammlung verlor ihre politische Bedeutung; und auch
das Fürstenthum, das den Uebergriffen des Adels hätte steuern
sollen, erlag demselben bei den Kelten so gut wie in Latium. An
die Stelle des Königs trat der ‚Rechtwirker‘ oder Vergobretus, *
der wie der römische Consul nur auf ein Jahr ernannt ward. So
weit der Gau überhaupt noch zusammenhielt, ward er durch den
Gemeinderath geleitet, in dem natürlich die Häupter der Aristo-
kratie die Regierung an sich rissen. Es versteht sich von selbst,
daſs unter solchen Verhältnissen es in den einzelnen Clans in
ganz ähnlicher Weise gährte, wie es in Latium nach der Vertrei-
bung der Könige Jahrhunderte lang gegährt hatte: während der
Adel der verschiedenen Gemeinden sich zu einem im Grunde re-
volutionären Sonderbündniſs zusammenthat, hörte die Menge
nicht auf die Wiederherstellung des Königthums zu begehren und
versuchte nicht selten ein hervorragender Edelmann, wie Spurius
Cassius in Rom gethan, gestützt auf den gemeinen Mann, die
Macht seiner Standesgenossen zu brechen und die Krone zu sei-
nem Besten wieder in ihre Rechte einzusetzen. — Wenn also die
einzelnen Gaue unheilbar hinsiechten, so regte sich wohl daneben
mächtig in der Nation das Gefühl der Einheit und suchte in man-
cherlei Weise Form und Halt zu gewinnen. Wie die Hellenen in
den Kriegen gegen die Perser, die Italiker in denen gegen die Kel-
ten, so scheinen die transalpinischen Gallier in den Kriegen gegen
Rom des Bestehens und der Macht der nationalen Einheit sich be-
wuſst geworden zu sein. Unter dem Hader der rivalisirenden Clans
und all jenem feudalistischen Gezänk machten doch auch die Stim-
men derer sich bemerklich, die die Unabhängigkeit der Nation
selbst um den Preis der Selbstständigkeit der einzelnen Gaue und
der Ritterschaftsverbände zu erkaufen bereit waren. Wie durch-
weg populär die Opposition gegen die Fremdherrschaft war, be-
weisen die Kriege Caesars, dem gegenüber die keltische Patrioten-
partei eine ganz ähnliche Stellung hatte wie die deutschen Pa-
trioten gegen Napoleon: die Telegraphengeschwindigkeit, mit der
sie sich Nachrichten mittheilte, zeugt unter anderm für ihre Aus-
dehnung und ihre Organisation. Die Allgemeinheit und die Mäch-
tigkeit des keltischen Nationalbewuſstseins würde unerklärlich
sein, wenn nicht bei der gröſsten politischen Zersplitterung die
keltische Nation seit langem religiös und selbst theologisch cen-
tralisirt gewesen wäre. Die keltische Priesterschaft oder mit dem
* Von den keltischen Wörtern guery = Wirker und breth = Gericht.
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