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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS.
durch Eisenwaffen. Als es Abend geworden war, wurden die
Körper in den Tiberfluss gestürzt; vergebens hat Gaius ihm die
Leiche seines Bruders zur Bestattung zu vergönnen. Solch einen
Tag hatte Rom noch nicht erlebt. Der mehr als hundertjährige
Hader der Parteien während der ersten socialen Krise hatte zu
keiner Katastrophe geführt, wie diejenige war, mit der die zweite
begann. Selbst der bessere Theil der Aristokratie mochte schau-
dern; indess man konnte auch auf dieser Seite nicht mehr zu-
rück. Man hatte nur die Wahl eine grosse Zahl der zuverlässig-
sten Parteigenossen der Rache der Menge preiszugeben oder
die Verantwortun der Unthat solidarisch zu übernehmen; das
Letztere geschah. Man hielt daran fest, dass Gracchus die Krone
habe nehmen wollen und rechtfertigte diesen neuesten Frevel
mit dem uralten Ahalas (I. 189); ja man überwies sogar die
weitere Untersuchung gegen Gracchus Mitschuldige einer be-
sondern Commission und liess den Consul Publius Popillius
dafür sorgen, dass durch Blutsentenzen gegen eine grosse An-
zahl geringer Leute der Blutthat gegen Gracchus nachträglich
eine Art rechtlichen Gepräges aufgedrückt ward (622). Nasica,
gegen den vor allen andern die Menge Rache schnaubte und der
wenigstens den Muth hatte sich offen vor dem Volk zu seiner
That zu bekennen und sie zu rechtfertigen, ward unter ehrenvol-
len Vorwänden nach Asien gesandt und bald darauf (624) abwe-
send mit dem Oberpontificat bekleidet. Auch die gemässigte
Partei trennte sich hierin nicht von ihren Collegen. Gaius Lae-
lius betheiligte sich bei den Untersuchungen gegen die Graccha-
ner; Publius Scaevola, der die Ermordung zu verhindern gesucht
hatte, vertheidigte sie später im Senat; als Scipio Aemilianus
nach seiner Rückkehr aus Spanien (622) aufgefordert ward sich
öffentlich darüber zu erklären, ob er die Tödtung seines Schwa-
gers billige oder nicht, gab er die wenigstens zweideutige Ant-
wort, dass, wofern er nach der Krone getrachtet habe, er mit
Recht getödtet worden sei.

Versuchen wir über diese folgenreichen Ereignisse zu einem
Urtheil zu gelangen. Die Auftheilung der Domänen war an sich
keine politische Parteifrage; sie konnte bis auf die letzte Scholle
durchgeführt werden, ohne dass die bestehende Verfassung geän-
dert, das Regiment der Aristokratie irgend erschüttert ward. Es
war eine ernste Verwaltungsfrage, bei der, wie man auch ent-
schied, schwere Uebelstände sich herausstellten. Zwar das
Eigenthum ward nicht verletzt; anerkanntermassen war der Staat
Eigenthümer des occupirten Landes und gegen ihn lief nach römi-

DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS.
durch Eisenwaffen. Als es Abend geworden war, wurden die
Körper in den Tiberfluſs gestürzt; vergebens hat Gaius ihm die
Leiche seines Bruders zur Bestattung zu vergönnen. Solch einen
Tag hatte Rom noch nicht erlebt. Der mehr als hundertjährige
Hader der Parteien während der ersten socialen Krise hatte zu
keiner Katastrophe geführt, wie diejenige war, mit der die zweite
begann. Selbst der bessere Theil der Aristokratie mochte schau-
dern; indeſs man konnte auch auf dieser Seite nicht mehr zu-
rück. Man hatte nur die Wahl eine groſse Zahl der zuverlässig-
sten Parteigenossen der Rache der Menge preiszugeben oder
die Verantwortun der Unthat solidarisch zu übernehmen; das
Letztere geschah. Man hielt daran fest, daſs Gracchus die Krone
habe nehmen wollen und rechtfertigte diesen neuesten Frevel
mit dem uralten Ahalas (I. 189); ja man überwies sogar die
weitere Untersuchung gegen Gracchus Mitschuldige einer be-
sondern Commission und lieſs den Consul Publius Popillius
dafür sorgen, daſs durch Blutsentenzen gegen eine groſse An-
zahl geringer Leute der Blutthat gegen Gracchus nachträglich
eine Art rechtlichen Gepräges aufgedrückt ward (622). Nasica,
gegen den vor allen andern die Menge Rache schnaubte und der
wenigstens den Muth hatte sich offen vor dem Volk zu seiner
That zu bekennen und sie zu rechtfertigen, ward unter ehrenvol-
len Vorwänden nach Asien gesandt und bald darauf (624) abwe-
send mit dem Oberpontificat bekleidet. Auch die gemäſsigte
Partei trennte sich hierin nicht von ihren Collegen. Gaius Lae-
lius betheiligte sich bei den Untersuchungen gegen die Graccha-
ner; Publius Scaevola, der die Ermordung zu verhindern gesucht
hatte, vertheidigte sie später im Senat; als Scipio Aemilianus
nach seiner Rückkehr aus Spanien (622) aufgefordert ward sich
öffentlich darüber zu erklären, ob er die Tödtung seines Schwa-
gers billige oder nicht, gab er die wenigstens zweideutige Ant-
wort, daſs, wofern er nach der Krone getrachtet habe, er mit
Recht getödtet worden sei.

Versuchen wir über diese folgenreichen Ereignisse zu einem
Urtheil zu gelangen. Die Auftheilung der Domänen war an sich
keine politische Parteifrage; sie konnte bis auf die letzte Scholle
durchgeführt werden, ohne daſs die bestehende Verfassung geän-
dert, das Regiment der Aristokratie irgend erschüttert ward. Es
war eine ernste Verwaltungsfrage, bei der, wie man auch ent-
schied, schwere Uebelstände sich herausstellten. Zwar das
Eigenthum ward nicht verletzt; anerkanntermaſsen war der Staat
Eigenthümer des occupirten Landes und gegen ihn lief nach römi-

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[85/0095] DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS. durch Eisenwaffen. Als es Abend geworden war, wurden die Körper in den Tiberfluſs gestürzt; vergebens hat Gaius ihm die Leiche seines Bruders zur Bestattung zu vergönnen. Solch einen Tag hatte Rom noch nicht erlebt. Der mehr als hundertjährige Hader der Parteien während der ersten socialen Krise hatte zu keiner Katastrophe geführt, wie diejenige war, mit der die zweite begann. Selbst der bessere Theil der Aristokratie mochte schau- dern; indeſs man konnte auch auf dieser Seite nicht mehr zu- rück. Man hatte nur die Wahl eine groſse Zahl der zuverlässig- sten Parteigenossen der Rache der Menge preiszugeben oder die Verantwortun der Unthat solidarisch zu übernehmen; das Letztere geschah. Man hielt daran fest, daſs Gracchus die Krone habe nehmen wollen und rechtfertigte diesen neuesten Frevel mit dem uralten Ahalas (I. 189); ja man überwies sogar die weitere Untersuchung gegen Gracchus Mitschuldige einer be- sondern Commission und lieſs den Consul Publius Popillius dafür sorgen, daſs durch Blutsentenzen gegen eine groſse An- zahl geringer Leute der Blutthat gegen Gracchus nachträglich eine Art rechtlichen Gepräges aufgedrückt ward (622). Nasica, gegen den vor allen andern die Menge Rache schnaubte und der wenigstens den Muth hatte sich offen vor dem Volk zu seiner That zu bekennen und sie zu rechtfertigen, ward unter ehrenvol- len Vorwänden nach Asien gesandt und bald darauf (624) abwe- send mit dem Oberpontificat bekleidet. Auch die gemäſsigte Partei trennte sich hierin nicht von ihren Collegen. Gaius Lae- lius betheiligte sich bei den Untersuchungen gegen die Graccha- ner; Publius Scaevola, der die Ermordung zu verhindern gesucht hatte, vertheidigte sie später im Senat; als Scipio Aemilianus nach seiner Rückkehr aus Spanien (622) aufgefordert ward sich öffentlich darüber zu erklären, ob er die Tödtung seines Schwa- gers billige oder nicht, gab er die wenigstens zweideutige Ant- wort, daſs, wofern er nach der Krone getrachtet habe, er mit Recht getödtet worden sei. Versuchen wir über diese folgenreichen Ereignisse zu einem Urtheil zu gelangen. Die Auftheilung der Domänen war an sich keine politische Parteifrage; sie konnte bis auf die letzte Scholle durchgeführt werden, ohne daſs die bestehende Verfassung geän- dert, das Regiment der Aristokratie irgend erschüttert ward. Es war eine ernste Verwaltungsfrage, bei der, wie man auch ent- schied, schwere Uebelstände sich herausstellten. Zwar das Eigenthum ward nicht verletzt; anerkanntermaſsen war der Staat Eigenthümer des occupirten Landes und gegen ihn lief nach römi-

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/95>, abgerufen am 21.11.2024.