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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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VIERTES BUCH. KAPITEL II.
Ebenso zog er, der die Knabenanklagen nicht hatte mitmachen
mögen, in seinen reifen Jahren selbst mehrere der schuldigsten
Männer der Aristokratie vor die Gerichte. In gleichem Geiste
hatte er als Feldherr vor Karthago und Numantia die Weiber und
Pfaffen zu den Thoren des Lagers hinausgejagt und das Solda-
tengesindel wieder zurückgezwungen unter den eisernen Druck
der alten Heereszucht, als Censor (612) unter der vorneh-
men Welt der glattkinnigen Manschettenträger aufgeräumt und
mit ernsten Worten die Bürgerschaft ermahnt an den rechtschaf-
fenen Sitten der Väter treulich zu halten. Aber niemand und er
selber am wenigsten konnte es verkennen, dass die Verschärfung
der Rechtspflege und das vereinzelte Dazwischenfahren nicht ein-
mal Anfänge waren zur Heilung der organischen Uebel, an denen
der Staat krankte. An diese hat Scipio nicht gerührt. Gaius
Laelius (Consul 614), Scipios väterlicher Freund und sein poli-
tischer Lehrmeister und Vertrauter, hatte den Plan gefasst die
Einziehung des unvergebenen, aber vorläufig occupirten italischen
Domaniallandes vorzuschlagen und durch dessen Auftheilung
dem zusehenden Verfall der italischen Bauerschaft zu steuern;
allein er stand von dem Vorschlag ab, als er sah, welchen Sturm
er zu erregen im Begriff war, und ward fortan ,der Verständige'
genannt. Auch Scipio dachte also. Er war von der Grösse des
Uebels völlig durchdrungen und scheute sich nicht, wo er nur
sich selber wagte, mit ehrenwerthem Muth ohne Ansehen der
Person rücksichtlos durchzugreifen; allein er hatte sich auch
überzeugt, dass dem Lande nur zu helfen sei um den Preis der-
selben Revolution, die im vierten und fünften Jahrhundert aus
der Reformfrage sich entsponnen hatte, und mit Recht oder mit
Unrecht, das Heilmittel schien ihm schlimmer als das Uebel.
So stand er mit dem kleinen Kreis seiner Freunde zwischen den
Aristokraten, die ihm seine Befürwortung des cassischen Ge-
setzes nie verziehen, und den Demokraten, denen er doch auch
nicht genügte und nicht genügen wollte; während seines Lebens
einsam, nach seinem Tode gefeiert von beiden Parteien, bald als
Vormann der Aristokratie, bald als Begünstiger der Reform. Bis
auf seine Zeit hatten die Censoren bei der Niederlegung ihres
Amtes die Götter angerufen dem Staat grössere Macht und Herr-
lichkeit zu verleihen; Scipio betete, dass sie geneigen möchten
den Staat zu erhalten. Sein ganzes Glaubensbekenntniss liegt in
dem schmerzlichen Ausruf.

Aber wo der Mann verzagte, der zweimal das römische Heer
aus tiefem Verfall zum Siege geführt hatte, da getraute ein tha-

VIERTES BUCH. KAPITEL II.
Ebenso zog er, der die Knabenanklagen nicht hatte mitmachen
mögen, in seinen reifen Jahren selbst mehrere der schuldigsten
Männer der Aristokratie vor die Gerichte. In gleichem Geiste
hatte er als Feldherr vor Karthago und Numantia die Weiber und
Pfaffen zu den Thoren des Lagers hinausgejagt und das Solda-
tengesindel wieder zurückgezwungen unter den eisernen Druck
der alten Heereszucht, als Censor (612) unter der vorneh-
men Welt der glattkinnigen Manschettenträger aufgeräumt und
mit ernsten Worten die Bürgerschaft ermahnt an den rechtschaf-
fenen Sitten der Väter treulich zu halten. Aber niemand und er
selber am wenigsten konnte es verkennen, daſs die Verschärfung
der Rechtspflege und das vereinzelte Dazwischenfahren nicht ein-
mal Anfänge waren zur Heilung der organischen Uebel, an denen
der Staat krankte. An diese hat Scipio nicht gerührt. Gaius
Laelius (Consul 614), Scipios väterlicher Freund und sein poli-
tischer Lehrmeister und Vertrauter, hatte den Plan gefaſst die
Einziehung des unvergebenen, aber vorläufig occupirten italischen
Domaniallandes vorzuschlagen und durch dessen Auftheilung
dem zusehenden Verfall der italischen Bauerschaft zu steuern;
allein er stand von dem Vorschlag ab, als er sah, welchen Sturm
er zu erregen im Begriff war, und ward fortan ‚der Verständige‘
genannt. Auch Scipio dachte also. Er war von der Gröſse des
Uebels völlig durchdrungen und scheute sich nicht, wo er nur
sich selber wagte, mit ehrenwerthem Muth ohne Ansehen der
Person rücksichtlos durchzugreifen; allein er hatte sich auch
überzeugt, daſs dem Lande nur zu helfen sei um den Preis der-
selben Revolution, die im vierten und fünften Jahrhundert aus
der Reformfrage sich entsponnen hatte, und mit Recht oder mit
Unrecht, das Heilmittel schien ihm schlimmer als das Uebel.
So stand er mit dem kleinen Kreis seiner Freunde zwischen den
Aristokraten, die ihm seine Befürwortung des cassischen Ge-
setzes nie verziehen, und den Demokraten, denen er doch auch
nicht genügte und nicht genügen wollte; während seines Lebens
einsam, nach seinem Tode gefeiert von beiden Parteien, bald als
Vormann der Aristokratie, bald als Begünstiger der Reform. Bis
auf seine Zeit hatten die Censoren bei der Niederlegung ihres
Amtes die Götter angerufen dem Staat gröſsere Macht und Herr-
lichkeit zu verleihen; Scipio betete, daſs sie geneigen möchten
den Staat zu erhalten. Sein ganzes Glaubensbekenntniſs liegt in
dem schmerzlichen Ausruf.

Aber wo der Mann verzagte, der zweimal das römische Heer
aus tiefem Verfall zum Siege geführt hatte, da getraute ein tha-

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[78/0088] VIERTES BUCH. KAPITEL II. Ebenso zog er, der die Knabenanklagen nicht hatte mitmachen mögen, in seinen reifen Jahren selbst mehrere der schuldigsten Männer der Aristokratie vor die Gerichte. In gleichem Geiste hatte er als Feldherr vor Karthago und Numantia die Weiber und Pfaffen zu den Thoren des Lagers hinausgejagt und das Solda- tengesindel wieder zurückgezwungen unter den eisernen Druck der alten Heereszucht, als Censor (612) unter der vorneh- men Welt der glattkinnigen Manschettenträger aufgeräumt und mit ernsten Worten die Bürgerschaft ermahnt an den rechtschaf- fenen Sitten der Väter treulich zu halten. Aber niemand und er selber am wenigsten konnte es verkennen, daſs die Verschärfung der Rechtspflege und das vereinzelte Dazwischenfahren nicht ein- mal Anfänge waren zur Heilung der organischen Uebel, an denen der Staat krankte. An diese hat Scipio nicht gerührt. Gaius Laelius (Consul 614), Scipios väterlicher Freund und sein poli- tischer Lehrmeister und Vertrauter, hatte den Plan gefaſst die Einziehung des unvergebenen, aber vorläufig occupirten italischen Domaniallandes vorzuschlagen und durch dessen Auftheilung dem zusehenden Verfall der italischen Bauerschaft zu steuern; allein er stand von dem Vorschlag ab, als er sah, welchen Sturm er zu erregen im Begriff war, und ward fortan ‚der Verständige‘ genannt. Auch Scipio dachte also. Er war von der Gröſse des Uebels völlig durchdrungen und scheute sich nicht, wo er nur sich selber wagte, mit ehrenwerthem Muth ohne Ansehen der Person rücksichtlos durchzugreifen; allein er hatte sich auch überzeugt, daſs dem Lande nur zu helfen sei um den Preis der- selben Revolution, die im vierten und fünften Jahrhundert aus der Reformfrage sich entsponnen hatte, und mit Recht oder mit Unrecht, das Heilmittel schien ihm schlimmer als das Uebel. So stand er mit dem kleinen Kreis seiner Freunde zwischen den Aristokraten, die ihm seine Befürwortung des cassischen Ge- setzes nie verziehen, und den Demokraten, denen er doch auch nicht genügte und nicht genügen wollte; während seines Lebens einsam, nach seinem Tode gefeiert von beiden Parteien, bald als Vormann der Aristokratie, bald als Begünstiger der Reform. Bis auf seine Zeit hatten die Censoren bei der Niederlegung ihres Amtes die Götter angerufen dem Staat gröſsere Macht und Herr- lichkeit zu verleihen; Scipio betete, daſs sie geneigen möchten den Staat zu erhalten. Sein ganzes Glaubensbekenntniſs liegt in dem schmerzlichen Ausruf. Aber wo der Mann verzagte, der zweimal das römische Heer aus tiefem Verfall zum Siege geführt hatte, da getraute ein tha-

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/88>, abgerufen am 21.11.2024.