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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS.
gar den spottseligen Alexandrinern. Seinen Hellenismus er-
kannte man vor allem in der feinen Ironie seiner Rede und in
seinem klassisch reinen Latein. Obwohl nicht eigentlich Schrift-
steller, zeichnete er doch wie Cato seine politischen Reden auf, die
noch die späteste Zeit gleich den Briefen seiner Adoptivschwe-
ster, der Mutter der Gracchen, als Meisterstücke mustergültiger
Prosa geschätzt hat, und zog mit Vorliebe die besseren griechi-
schen und römischen Litteraten in seinen Umgang. Ein sittlich
fester und zuverlässiger Mann galt sein Wort bei Freund und
Feind; er mied Bauten und Speculationen und lebte einfach; da-
für handelte er in Geldangelegenheiten nicht bloss ehrlich und
uneigennützig, sondern auch mit einer dem kaufmännischen
Sinn seiner Zeitgenossen seltsam dünkenden Zartheit und Libe-
ralität. Er war ein tüchtiger Soldat und Offizier: aus dem afri-
canischen Krieg brachte er wegen Rettung gefährdeter Bürger
mit eigener Lebensgefahr den Ehrenkranz heim und beendigte
den Krieg als Feldherr, den er als Offizier begonnen hatte; an
wirklich schwierigen Aufgaben sein Feldherrngeschick zu erpro-
ben boten die Umstände ihm keine Gelegenheit. Scipio war keine
geniale Natur so wenig wie sein Vater -- davon zeugt schon
seine Vorliebe für Xenophon, den nüchternen Militär und cor-
recten Schriftsteller --, aber ein rechter und echter Mann, der
vor Andern berufen schien dem beginnenden Verfall durch orga-
nische Reform des Staats zu wehren. Um so bezeichnender ist
es, dass er es nicht that. Zwar suchte er, wo und wie er konnte,
Missbräuche abzustellen und zu verhindern und arbeitete na-
mentlich hin auf Verschärfung der Gerichte. Die wichtige Mass-
regel, an die Stelle der bisherigen durch den Senat kraft seiner
Administrativjuridsiction und gelegentlich durch ausserordentliche
senatorische Commissionen ausgeübten Controle über die Provin-
zialbeamten eine regelmässige gerichtliche Controle treten zu lassen
und zur Aburtheilung der Beschwerden der Provinzialen gegen die
römischen Provinzialverwalter wegen Gelderpressung eine stän-
dige Senatscommission niederzusetzen, war im J. 605 durch Lu-
cius Calpurnius Piso durchgebracht worden. Wenn Scipio auch
hiebei noch nicht mitgewirkt haben mag, so war doch haupt-
sächlich er es, der dem Lucius Cassius, einem tüchtigen Mann
von altväterischer Strenge und Ehrenfestigkeit, es möglich
machte gegen den heftigsten Widerstand der Optimaten sein
Stimmgesetz durchzubringen, wodurch in den noch immer den
wichtigsten Theil der Criminaljurisdiction umfassenden Volks-
gerichten die geheime Abstimmung eingeführt ward (S. 62).

DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS.
gar den spottseligen Alexandrinern. Seinen Hellenismus er-
kannte man vor allem in der feinen Ironie seiner Rede und in
seinem klassisch reinen Latein. Obwohl nicht eigentlich Schrift-
steller, zeichnete er doch wie Cato seine politischen Reden auf, die
noch die späteste Zeit gleich den Briefen seiner Adoptivschwe-
ster, der Mutter der Gracchen, als Meisterstücke mustergültiger
Prosa geschätzt hat, und zog mit Vorliebe die besseren griechi-
schen und römischen Litteraten in seinen Umgang. Ein sittlich
fester und zuverlässiger Mann galt sein Wort bei Freund und
Feind; er mied Bauten und Speculationen und lebte einfach; da-
für handelte er in Geldangelegenheiten nicht bloſs ehrlich und
uneigennützig, sondern auch mit einer dem kaufmännischen
Sinn seiner Zeitgenossen seltsam dünkenden Zartheit und Libe-
ralität. Er war ein tüchtiger Soldat und Offizier: aus dem afri-
canischen Krieg brachte er wegen Rettung gefährdeter Bürger
mit eigener Lebensgefahr den Ehrenkranz heim und beendigte
den Krieg als Feldherr, den er als Offizier begonnen hatte; an
wirklich schwierigen Aufgaben sein Feldherrngeschick zu erpro-
ben boten die Umstände ihm keine Gelegenheit. Scipio war keine
geniale Natur so wenig wie sein Vater — davon zeugt schon
seine Vorliebe für Xenophon, den nüchternen Militär und cor-
recten Schriftsteller —, aber ein rechter und echter Mann, der
vor Andern berufen schien dem beginnenden Verfall durch orga-
nische Reform des Staats zu wehren. Um so bezeichnender ist
es, daſs er es nicht that. Zwar suchte er, wo und wie er konnte,
Miſsbräuche abzustellen und zu verhindern und arbeitete na-
mentlich hin auf Verschärfung der Gerichte. Die wichtige Maſs-
regel, an die Stelle der bisherigen durch den Senat kraft seiner
Administrativjuridsiction und gelegentlich durch auſserordentliche
senatorische Commissionen ausgeübten Controle über die Provin-
zialbeamten eine regelmäſsige gerichtliche Controle treten zu lassen
und zur Aburtheilung der Beschwerden der Provinzialen gegen die
römischen Provinzialverwalter wegen Gelderpressung eine stän-
dige Senatscommission niederzusetzen, war im J. 605 durch Lu-
cius Calpurnius Piso durchgebracht worden. Wenn Scipio auch
hiebei noch nicht mitgewirkt haben mag, so war doch haupt-
sächlich er es, der dem Lucius Cassius, einem tüchtigen Mann
von altväterischer Strenge und Ehrenfestigkeit, es möglich
machte gegen den heftigsten Widerstand der Optimaten sein
Stimmgesetz durchzubringen, wodurch in den noch immer den
wichtigsten Theil der Criminaljurisdiction umfassenden Volks-
gerichten die geheime Abstimmung eingeführt ward (S. 62).

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[77/0087] DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS. gar den spottseligen Alexandrinern. Seinen Hellenismus er- kannte man vor allem in der feinen Ironie seiner Rede und in seinem klassisch reinen Latein. Obwohl nicht eigentlich Schrift- steller, zeichnete er doch wie Cato seine politischen Reden auf, die noch die späteste Zeit gleich den Briefen seiner Adoptivschwe- ster, der Mutter der Gracchen, als Meisterstücke mustergültiger Prosa geschätzt hat, und zog mit Vorliebe die besseren griechi- schen und römischen Litteraten in seinen Umgang. Ein sittlich fester und zuverlässiger Mann galt sein Wort bei Freund und Feind; er mied Bauten und Speculationen und lebte einfach; da- für handelte er in Geldangelegenheiten nicht bloſs ehrlich und uneigennützig, sondern auch mit einer dem kaufmännischen Sinn seiner Zeitgenossen seltsam dünkenden Zartheit und Libe- ralität. Er war ein tüchtiger Soldat und Offizier: aus dem afri- canischen Krieg brachte er wegen Rettung gefährdeter Bürger mit eigener Lebensgefahr den Ehrenkranz heim und beendigte den Krieg als Feldherr, den er als Offizier begonnen hatte; an wirklich schwierigen Aufgaben sein Feldherrngeschick zu erpro- ben boten die Umstände ihm keine Gelegenheit. Scipio war keine geniale Natur so wenig wie sein Vater — davon zeugt schon seine Vorliebe für Xenophon, den nüchternen Militär und cor- recten Schriftsteller —, aber ein rechter und echter Mann, der vor Andern berufen schien dem beginnenden Verfall durch orga- nische Reform des Staats zu wehren. Um so bezeichnender ist es, daſs er es nicht that. Zwar suchte er, wo und wie er konnte, Miſsbräuche abzustellen und zu verhindern und arbeitete na- mentlich hin auf Verschärfung der Gerichte. Die wichtige Maſs- regel, an die Stelle der bisherigen durch den Senat kraft seiner Administrativjuridsiction und gelegentlich durch auſserordentliche senatorische Commissionen ausgeübten Controle über die Provin- zialbeamten eine regelmäſsige gerichtliche Controle treten zu lassen und zur Aburtheilung der Beschwerden der Provinzialen gegen die römischen Provinzialverwalter wegen Gelderpressung eine stän- dige Senatscommission niederzusetzen, war im J. 605 durch Lu- cius Calpurnius Piso durchgebracht worden. Wenn Scipio auch hiebei noch nicht mitgewirkt haben mag, so war doch haupt- sächlich er es, der dem Lucius Cassius, einem tüchtigen Mann von altväterischer Strenge und Ehrenfestigkeit, es möglich machte gegen den heftigsten Widerstand der Optimaten sein Stimmgesetz durchzubringen, wodurch in den noch immer den wichtigsten Theil der Criminaljurisdiction umfassenden Volks- gerichten die geheime Abstimmung eingeführt ward (S. 62).

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/87>, abgerufen am 21.11.2024.