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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS.
Gesetze durch das papirische Gesetz (623), galt zwar der Fort-
schrittspartei dieser Zeit als die Emancipation des Mittelstandes
von dem drückenden Uebergewicht der Aristokratie und als der
Anfang einer Regeneration des Staates. In der That aber änderte
diese Panacee der römischen Demokratie nicht das Mindeste in
dem Stande der Dinge und war genau genommen nichts als ein
handgreiflicher Beweis für die bereits seit einem Jahrhundert
vorhandene (I, 604) Nichtigkeit und Unfreiheit des höchsten Or-
gans der römischen Gemeinde. Wie es andrerseits wesentlich die
regierende Aristokratie gewesen war, an der mehr als an dem
Feldherrngeschick der römischen Generale und dem Muth seiner
Bürger Hannibals Genie scheiterte, so war es wiederum diese
Aristokratie, deren kurzsichtiges, schlaffes, eigensüchtiges Regi-
ment nach aussen wie nach innen vornämlich das eigene Werk
verdarb. Nicht als wären die Söhne und Enkel der Besiegten
von Cannae und der Sieger von Zama so völlig aus der Art ihrer
Grossväter und Väter geschlagen; es waren weniger andere Men-
schen, die jetzt im Senat sassen, als eine andere Zeit. Wo im-
mer, wie in Rom seit der Beendigung des Patricier- und Ple-
bejerhaders, eine geschlossene Zahl alter Familien festgegründeten
Reichthums und ererbter staatsmännischer Bedeutung das Regi-
ment führt, wird sie in dem Kampf um die Existenz eine ebenso
unvergleichliche zähe Folgerichtigkeit und heldenmüthige Opfer-
fähigkeit entwickeln wie in gewöhnlichen Zeitläuften alle Mängel
der Collegialität und der Coterie. Die vorhandenen Krankheits-
stoffe entwickelten sich rasch in der Sonne des Glückes. Die ari-
stokratische Politik dieser Zeit war eine arge Antwort auf Catos
Frage, was aus Rom werden solle, wenn es keinen Staat mehr
zu fürchten haben werde. Wie der Tod einen nach dem andern
die Männer abrief, welche die ernste Schule des hannibalischen
Krieges grossgezogen hatte und in denen die Begeisterung jener
gewaltigen Zeit noch bis in das späteste Alter nachklang; wie
endlich auch die Stimme des letzten von ihnen, des alten Cato
im Rathhaus und auf dem Marktplatz verstummte, traten alle
Missbräuche der Cliquenregierung immer schroffer, immer wider-
wärtiger hervor. Die römische Nobilität, von Haus aus exclusiv
wie jede Aristokratie, verschloss sich fast hermetisch gegen die
,neuen Menschen' und je weniger die Regierung auf ernste Ge-
fahren traf, desto vollständiger gelang es jede Entweihung durch
gemeine Leute, deren Adelsbrief ihre Thaten waren, von den
lauteren Kreisen der Aristokratie abzuwehren und auszureichen
mit einem Regiment adlicher Nullitäten. Ein charakteristisches

DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS.
Gesetze durch das papirische Gesetz (623), galt zwar der Fort-
schrittspartei dieser Zeit als die Emancipation des Mittelstandes
von dem drückenden Uebergewicht der Aristokratie und als der
Anfang einer Regeneration des Staates. In der That aber änderte
diese Panacee der römischen Demokratie nicht das Mindeste in
dem Stande der Dinge und war genau genommen nichts als ein
handgreiflicher Beweis für die bereits seit einem Jahrhundert
vorhandene (I, 604) Nichtigkeit und Unfreiheit des höchsten Or-
gans der römischen Gemeinde. Wie es andrerseits wesentlich die
regierende Aristokratie gewesen war, an der mehr als an dem
Feldherrngeschick der römischen Generale und dem Muth seiner
Bürger Hannibals Genie scheiterte, so war es wiederum diese
Aristokratie, deren kurzsichtiges, schlaffes, eigensüchtiges Regi-
ment nach auſsen wie nach innen vornämlich das eigene Werk
verdarb. Nicht als wären die Söhne und Enkel der Besiegten
von Cannae und der Sieger von Zama so völlig aus der Art ihrer
Groſsväter und Väter geschlagen; es waren weniger andere Men-
schen, die jetzt im Senat saſsen, als eine andere Zeit. Wo im-
mer, wie in Rom seit der Beendigung des Patricier- und Ple-
bejerhaders, eine geschlossene Zahl alter Familien festgegründeten
Reichthums und ererbter staatsmännischer Bedeutung das Regi-
ment führt, wird sie in dem Kampf um die Existenz eine ebenso
unvergleichliche zähe Folgerichtigkeit und heldenmüthige Opfer-
fähigkeit entwickeln wie in gewöhnlichen Zeitläuften alle Mängel
der Collegialität und der Coterie. Die vorhandenen Krankheits-
stoffe entwickelten sich rasch in der Sonne des Glückes. Die ari-
stokratische Politik dieser Zeit war eine arge Antwort auf Catos
Frage, was aus Rom werden solle, wenn es keinen Staat mehr
zu fürchten haben werde. Wie der Tod einen nach dem andern
die Männer abrief, welche die ernste Schule des hannibalischen
Krieges groſsgezogen hatte und in denen die Begeisterung jener
gewaltigen Zeit noch bis in das späteste Alter nachklang; wie
endlich auch die Stimme des letzten von ihnen, des alten Cato
im Rathhaus und auf dem Marktplatz verstummte, traten alle
Miſsbräuche der Cliquenregierung immer schroffer, immer wider-
wärtiger hervor. Die römische Nobilität, von Haus aus exclusiv
wie jede Aristokratie, verschloſs sich fast hermetisch gegen die
‚neuen Menschen‘ und je weniger die Regierung auf ernste Ge-
fahren traf, desto vollständiger gelang es jede Entweihung durch
gemeine Leute, deren Adelsbrief ihre Thaten waren, von den
lauteren Kreisen der Aristokratie abzuwehren und auszureichen
mit einem Regiment adlicher Nullitäten. Ein charakteristisches

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[63/0073] DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS. Gesetze durch das papirische Gesetz (623), galt zwar der Fort- schrittspartei dieser Zeit als die Emancipation des Mittelstandes von dem drückenden Uebergewicht der Aristokratie und als der Anfang einer Regeneration des Staates. In der That aber änderte diese Panacee der römischen Demokratie nicht das Mindeste in dem Stande der Dinge und war genau genommen nichts als ein handgreiflicher Beweis für die bereits seit einem Jahrhundert vorhandene (I, 604) Nichtigkeit und Unfreiheit des höchsten Or- gans der römischen Gemeinde. Wie es andrerseits wesentlich die regierende Aristokratie gewesen war, an der mehr als an dem Feldherrngeschick der römischen Generale und dem Muth seiner Bürger Hannibals Genie scheiterte, so war es wiederum diese Aristokratie, deren kurzsichtiges, schlaffes, eigensüchtiges Regi- ment nach auſsen wie nach innen vornämlich das eigene Werk verdarb. Nicht als wären die Söhne und Enkel der Besiegten von Cannae und der Sieger von Zama so völlig aus der Art ihrer Groſsväter und Väter geschlagen; es waren weniger andere Men- schen, die jetzt im Senat saſsen, als eine andere Zeit. Wo im- mer, wie in Rom seit der Beendigung des Patricier- und Ple- bejerhaders, eine geschlossene Zahl alter Familien festgegründeten Reichthums und ererbter staatsmännischer Bedeutung das Regi- ment führt, wird sie in dem Kampf um die Existenz eine ebenso unvergleichliche zähe Folgerichtigkeit und heldenmüthige Opfer- fähigkeit entwickeln wie in gewöhnlichen Zeitläuften alle Mängel der Collegialität und der Coterie. Die vorhandenen Krankheits- stoffe entwickelten sich rasch in der Sonne des Glückes. Die ari- stokratische Politik dieser Zeit war eine arge Antwort auf Catos Frage, was aus Rom werden solle, wenn es keinen Staat mehr zu fürchten haben werde. Wie der Tod einen nach dem andern die Männer abrief, welche die ernste Schule des hannibalischen Krieges groſsgezogen hatte und in denen die Begeisterung jener gewaltigen Zeit noch bis in das späteste Alter nachklang; wie endlich auch die Stimme des letzten von ihnen, des alten Cato im Rathhaus und auf dem Marktplatz verstummte, traten alle Miſsbräuche der Cliquenregierung immer schroffer, immer wider- wärtiger hervor. Die römische Nobilität, von Haus aus exclusiv wie jede Aristokratie, verschloſs sich fast hermetisch gegen die ‚neuen Menschen‘ und je weniger die Regierung auf ernste Ge- fahren traf, desto vollständiger gelang es jede Entweihung durch gemeine Leute, deren Adelsbrief ihre Thaten waren, von den lauteren Kreisen der Aristokratie abzuwehren und auszureichen mit einem Regiment adlicher Nullitäten. Ein charakteristisches

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/73>, abgerufen am 21.11.2024.