KAPITEL II. Die Reformbewegung und Tiberius Gracchus.
Ein volles Menschenalter nach der Schlacht von Pydna er- freute der römische Staat sich der tiefsten kaum hie und da an der Oberfläche bewegten Ruhe. Das Gebiet dehnte über die drei Welttheile sich aus; der Glanz der römischen Macht und der Ruhm des römischen Namens waren in dauerndem Steigen; aller Augen ruhten auf Italien, alle Talente, aller Reichthum strömten dahin: es schien dort eine goldene Zeit friedlicher Wohlfahrt und geistigen Lebensgenusses beginnen zu müssen. Mit Bewunderung erzählten sich die Orientalen dieser Zeit von der mächtigen Re- publik des Westens, ,die die Königreiche bezwang fern und nah und wer ihren Namen vernahm, der fürchtete sich; mit den Freunden und Schutzbefohlenen aber hielt sie guten Frieden. Solche Herrlichkeit war bei den Römern, und doch setzte keiner die Krone sich auf und prahlte keiner im Purpurgewand; son- dern wen sie Jahr um Jahr zu ihrem Herrn machten, auf den hörten sie und war bei ihnen nicht Neid noch Zwietracht.'
So schien es in der Ferne; in der That war die Macht und die Volkswohlfahrt Roms und Italiens seit der Schlacht von Pydna in raschem und unverkennbarem Sinken. Es ist kein Organ, keine Function des Staates, in der sich dieser Verfall nicht zeigte; er macht in den feindlich sich gegenüberstehenden Parteien sich in gleicher Weise geltend. Die Einführung der geheimen Abstimmung in den Versammlungen der Bürgerschaft, zuerst für die Magistrats- wahlen durch das gabinische (615), dann für die Volksgerichte durch das cassische (617), endlich für die Abstimmung über
KAPITEL II. Die Reformbewegung und Tiberius Gracchus.
Ein volles Menschenalter nach der Schlacht von Pydna er- freute der römische Staat sich der tiefsten kaum hie und da an der Oberfläche bewegten Ruhe. Das Gebiet dehnte über die drei Welttheile sich aus; der Glanz der römischen Macht und der Ruhm des römischen Namens waren in dauerndem Steigen; aller Augen ruhten auf Italien, alle Talente, aller Reichthum strömten dahin: es schien dort eine goldene Zeit friedlicher Wohlfahrt und geistigen Lebensgenusses beginnen zu müssen. Mit Bewunderung erzählten sich die Orientalen dieser Zeit von der mächtigen Re- publik des Westens, ‚die die Königreiche bezwang fern und nah und wer ihren Namen vernahm, der fürchtete sich; mit den Freunden und Schutzbefohlenen aber hielt sie guten Frieden. Solche Herrlichkeit war bei den Römern, und doch setzte keiner die Krone sich auf und prahlte keiner im Purpurgewand; son- dern wen sie Jahr um Jahr zu ihrem Herrn machten, auf den hörten sie und war bei ihnen nicht Neid noch Zwietracht.‘
So schien es in der Ferne; in der That war die Macht und die Volkswohlfahrt Roms und Italiens seit der Schlacht von Pydna in raschem und unverkennbarem Sinken. Es ist kein Organ, keine Function des Staates, in der sich dieser Verfall nicht zeigte; er macht in den feindlich sich gegenüberstehenden Parteien sich in gleicher Weise geltend. Die Einführung der geheimen Abstimmung in den Versammlungen der Bürgerschaft, zuerst für die Magistrats- wahlen durch das gabinische (615), dann für die Volksgerichte durch das cassische (617), endlich für die Abstimmung über
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0072"n="[62]"/><divn="2"><head>KAPITEL II.<lb/><hirendition="#g">Die Reformbewegung und Tiberius Gracchus</hi>.</head><lb/><p><hirendition="#in">E</hi>in volles Menschenalter nach der Schlacht von Pydna er-<lb/>
freute der römische Staat sich der tiefsten kaum hie und da an<lb/>
der Oberfläche bewegten Ruhe. Das Gebiet dehnte über die drei<lb/>
Welttheile sich aus; der Glanz der römischen Macht und der<lb/>
Ruhm des römischen Namens waren in dauerndem Steigen; aller<lb/>
Augen ruhten auf Italien, alle Talente, aller Reichthum strömten<lb/>
dahin: es schien dort eine goldene Zeit friedlicher Wohlfahrt und<lb/>
geistigen Lebensgenusses beginnen zu müssen. Mit Bewunderung<lb/>
erzählten sich die Orientalen dieser Zeit von der mächtigen Re-<lb/>
publik des Westens, ‚die die Königreiche bezwang fern und nah<lb/>
und wer ihren Namen vernahm, der fürchtete sich; mit den<lb/>
Freunden und Schutzbefohlenen aber hielt sie guten Frieden.<lb/>
Solche Herrlichkeit war bei den Römern, und doch setzte keiner<lb/>
die Krone sich auf und prahlte keiner im Purpurgewand; son-<lb/>
dern wen sie Jahr um Jahr zu ihrem Herrn machten, auf den<lb/>
hörten sie und war bei ihnen nicht Neid noch Zwietracht.‘</p><lb/><p>So schien es in der Ferne; in der That war die Macht und<lb/>
die Volkswohlfahrt Roms und Italiens seit der Schlacht von Pydna<lb/>
in raschem und unverkennbarem Sinken. Es ist kein Organ, keine<lb/>
Function des Staates, in der sich dieser Verfall nicht zeigte; er<lb/>
macht in den feindlich sich gegenüberstehenden Parteien sich in<lb/>
gleicher Weise geltend. Die Einführung der geheimen Abstimmung<lb/>
in den Versammlungen der Bürgerschaft, zuerst für die Magistrats-<lb/>
wahlen durch das gabinische (615), dann für die Volksgerichte<lb/>
durch das cassische (617), endlich für die Abstimmung über<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[[62]/0072]
KAPITEL II.
Die Reformbewegung und Tiberius Gracchus.
Ein volles Menschenalter nach der Schlacht von Pydna er-
freute der römische Staat sich der tiefsten kaum hie und da an
der Oberfläche bewegten Ruhe. Das Gebiet dehnte über die drei
Welttheile sich aus; der Glanz der römischen Macht und der
Ruhm des römischen Namens waren in dauerndem Steigen; aller
Augen ruhten auf Italien, alle Talente, aller Reichthum strömten
dahin: es schien dort eine goldene Zeit friedlicher Wohlfahrt und
geistigen Lebensgenusses beginnen zu müssen. Mit Bewunderung
erzählten sich die Orientalen dieser Zeit von der mächtigen Re-
publik des Westens, ‚die die Königreiche bezwang fern und nah
und wer ihren Namen vernahm, der fürchtete sich; mit den
Freunden und Schutzbefohlenen aber hielt sie guten Frieden.
Solche Herrlichkeit war bei den Römern, und doch setzte keiner
die Krone sich auf und prahlte keiner im Purpurgewand; son-
dern wen sie Jahr um Jahr zu ihrem Herrn machten, auf den
hörten sie und war bei ihnen nicht Neid noch Zwietracht.‘
So schien es in der Ferne; in der That war die Macht und
die Volkswohlfahrt Roms und Italiens seit der Schlacht von Pydna
in raschem und unverkennbarem Sinken. Es ist kein Organ, keine
Function des Staates, in der sich dieser Verfall nicht zeigte; er
macht in den feindlich sich gegenüberstehenden Parteien sich in
gleicher Weise geltend. Die Einführung der geheimen Abstimmung
in den Versammlungen der Bürgerschaft, zuerst für die Magistrats-
wahlen durch das gabinische (615), dann für die Volksgerichte
durch das cassische (617), endlich für die Abstimmung über
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. [62]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/72>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.