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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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LITTERATUR UND KUNST.
schichtlichen Inhalt dar und ihre Arbeiten auf diesem Gebiet wa-
ren entweder durchaus specieller Art oder durchdrungen von
Phrasen und rhetorischen Lügen. Dort wie hier gab es nichts
als Stadt- oder Stammgeschichten. Zuerst Polybios, ein Pelo-
ponnesier, wie man mit Recht erinnert hat, und geistig den At-
tikern wenigstens ebenso fremd wie den Römern, überschritt
diese kümmerlichen Schranken, behandelte den römischen Stoff
mit hellenisch gereifter Kritik und gab, zwar nicht eine univer-
sale, aber doch eine von den Localstaaten losgelöste und dem im
Werden begriffenen römisch-griechischen Staat angepasste Ge-
schichte. Vielleicht niemals hat ein Geschichtschreiber so voll-
ständig wie Polybios alle Vorzüge eines Quellenschriftstellers in
sich vereinigt. Der Umfang seiner Aufgabe ist ihm vollkommen
deutlich und jeden Augenblick gegenwärtig; durchaus haftet der
Blick auf dem wirklich geschichtlichen Hergang. Die Sage, die
Anekdote, die Masse der werthlosen Chroniknotizen wird bei
Seite geworfen; die Schilderung der Länder und Völker, die Dar-
stellung der staatlichen und mercantilen Verhältnisse, all die so
unendlich wichtigen Thatsachen, die dem Annalisten entschlüp-
fen, weil sie sich nicht auf ein bestimmtes Jahr aufnageln lassen,
werden eingesetzt in ihr lange verkümmertes Recht. In der Her-
beischaffung des historischen Materials zeigt Polybios eine Um-
sicht und eine Ausdauer, wie sie im Alterthum vielleicht nicht
wieder erscheinen; er benutzt die Urkunden, berücksichtigt um-
fassend die Litteratur der verschiedenen Nationen, macht von
seiner günstigen Stellung zum Einziehen der Nachrichten von
Mithandelnden und Augenzeugen den umfassendsten Gebrauch,
bereist endlich planmässig das ganze Gebiet der Mittelmeerstaaten
und einen Theil der Küste des atlantischen Oceans. Die Wahr-
haftigkeit ist ihm Natur; er hat kein Interesse für diesen oder
gegen jenen Staat, für diesen oder gegen jenen Mann, sondern
einzig und allein für den wesentlichen Zusammenhang der Dinge,
den im richtigen Verhältniss der Ursachen und Wirkungen dar-
zulegen ihm nicht bloss die erste, sondern die einzige Aufgabe
des Geschichtschreibers scheint. Die Erzählung endlich ist muster-
haft vollständig, einfach und klar. Aber alle diese ungemeinen
Vorzüge machen noch keineswegs einen Geschichtschreiber ersten
Ranges. Polybios fasst seine Aufgabe mit grossartigem Verstand,
aber auch nur mit dem Verstande. Die Geschichte, der Kampf
der Nothwendigkeit und der Freiheit, ist ein sittliches Problem;
Polybios behandelt sie, als wäre sie ein mechanisches. Gross ist
ihm nur das Ganze, in der Natur wie im Staat; das besondere Er-

LITTERATUR UND KUNST.
schichtlichen Inhalt dar und ihre Arbeiten auf diesem Gebiet wa-
ren entweder durchaus specieller Art oder durchdrungen von
Phrasen und rhetorischen Lügen. Dort wie hier gab es nichts
als Stadt- oder Stammgeschichten. Zuerst Polybios, ein Pelo-
ponnesier, wie man mit Recht erinnert hat, und geistig den At-
tikern wenigstens ebenso fremd wie den Römern, überschritt
diese kümmerlichen Schranken, behandelte den römischen Stoff
mit hellenisch gereifter Kritik und gab, zwar nicht eine univer-
sale, aber doch eine von den Localstaaten losgelöste und dem im
Werden begriffenen römisch-griechischen Staat angepaſste Ge-
schichte. Vielleicht niemals hat ein Geschichtschreiber so voll-
ständig wie Polybios alle Vorzüge eines Quellenschriftstellers in
sich vereinigt. Der Umfang seiner Aufgabe ist ihm vollkommen
deutlich und jeden Augenblick gegenwärtig; durchaus haftet der
Blick auf dem wirklich geschichtlichen Hergang. Die Sage, die
Anekdote, die Masse der werthlosen Chroniknotizen wird bei
Seite geworfen; die Schilderung der Länder und Völker, die Dar-
stellung der staatlichen und mercantilen Verhältnisse, all die so
unendlich wichtigen Thatsachen, die dem Annalisten entschlüp-
fen, weil sie sich nicht auf ein bestimmtes Jahr aufnageln lassen,
werden eingesetzt in ihr lange verkümmertes Recht. In der Her-
beischaffung des historischen Materials zeigt Polybios eine Um-
sicht und eine Ausdauer, wie sie im Alterthum vielleicht nicht
wieder erscheinen; er benutzt die Urkunden, berücksichtigt um-
fassend die Litteratur der verschiedenen Nationen, macht von
seiner günstigen Stellung zum Einziehen der Nachrichten von
Mithandelnden und Augenzeugen den umfassendsten Gebrauch,
bereist endlich planmäſsig das ganze Gebiet der Mittelmeerstaaten
und einen Theil der Küste des atlantischen Oceans. Die Wahr-
haftigkeit ist ihm Natur; er hat kein Interesse für diesen oder
gegen jenen Staat, für diesen oder gegen jenen Mann, sondern
einzig und allein für den wesentlichen Zusammenhang der Dinge,
den im richtigen Verhältniſs der Ursachen und Wirkungen dar-
zulegen ihm nicht bloſs die erste, sondern die einzige Aufgabe
des Geschichtschreibers scheint. Die Erzählung endlich ist muster-
haft vollständig, einfach und klar. Aber alle diese ungemeinen
Vorzüge machen noch keineswegs einen Geschichtschreiber ersten
Ranges. Polybios faſst seine Aufgabe mit groſsartigem Verstand,
aber auch nur mit dem Verstande. Die Geschichte, der Kampf
der Nothwendigkeit und der Freiheit, ist ein sittliches Problem;
Polybios behandelt sie, als wäre sie ein mechanisches. Groſs ist
ihm nur das Ganze, in der Natur wie im Staat; das besondere Er-

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[429/0439] LITTERATUR UND KUNST. schichtlichen Inhalt dar und ihre Arbeiten auf diesem Gebiet wa- ren entweder durchaus specieller Art oder durchdrungen von Phrasen und rhetorischen Lügen. Dort wie hier gab es nichts als Stadt- oder Stammgeschichten. Zuerst Polybios, ein Pelo- ponnesier, wie man mit Recht erinnert hat, und geistig den At- tikern wenigstens ebenso fremd wie den Römern, überschritt diese kümmerlichen Schranken, behandelte den römischen Stoff mit hellenisch gereifter Kritik und gab, zwar nicht eine univer- sale, aber doch eine von den Localstaaten losgelöste und dem im Werden begriffenen römisch-griechischen Staat angepaſste Ge- schichte. Vielleicht niemals hat ein Geschichtschreiber so voll- ständig wie Polybios alle Vorzüge eines Quellenschriftstellers in sich vereinigt. Der Umfang seiner Aufgabe ist ihm vollkommen deutlich und jeden Augenblick gegenwärtig; durchaus haftet der Blick auf dem wirklich geschichtlichen Hergang. Die Sage, die Anekdote, die Masse der werthlosen Chroniknotizen wird bei Seite geworfen; die Schilderung der Länder und Völker, die Dar- stellung der staatlichen und mercantilen Verhältnisse, all die so unendlich wichtigen Thatsachen, die dem Annalisten entschlüp- fen, weil sie sich nicht auf ein bestimmtes Jahr aufnageln lassen, werden eingesetzt in ihr lange verkümmertes Recht. In der Her- beischaffung des historischen Materials zeigt Polybios eine Um- sicht und eine Ausdauer, wie sie im Alterthum vielleicht nicht wieder erscheinen; er benutzt die Urkunden, berücksichtigt um- fassend die Litteratur der verschiedenen Nationen, macht von seiner günstigen Stellung zum Einziehen der Nachrichten von Mithandelnden und Augenzeugen den umfassendsten Gebrauch, bereist endlich planmäſsig das ganze Gebiet der Mittelmeerstaaten und einen Theil der Küste des atlantischen Oceans. Die Wahr- haftigkeit ist ihm Natur; er hat kein Interesse für diesen oder gegen jenen Staat, für diesen oder gegen jenen Mann, sondern einzig und allein für den wesentlichen Zusammenhang der Dinge, den im richtigen Verhältniſs der Ursachen und Wirkungen dar- zulegen ihm nicht bloſs die erste, sondern die einzige Aufgabe des Geschichtschreibers scheint. Die Erzählung endlich ist muster- haft vollständig, einfach und klar. Aber alle diese ungemeinen Vorzüge machen noch keineswegs einen Geschichtschreiber ersten Ranges. Polybios faſst seine Aufgabe mit groſsartigem Verstand, aber auch nur mit dem Verstande. Die Geschichte, der Kampf der Nothwendigkeit und der Freiheit, ist ein sittliches Problem; Polybios behandelt sie, als wäre sie ein mechanisches. Groſs ist ihm nur das Ganze, in der Natur wie im Staat; das besondere Er-

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 429. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/439>, abgerufen am 23.11.2024.