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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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VIERTES BUCH. KAPITEL V.
Tags an der Allia und des Brandes von Rom. In Italien bemäch-
tigte der Gallierschreck mit der ganzen Gewalt zugleich ältester
Erinnerung und frischer Angst sich der Gemüther; im ganzen
Occident schien man es inne zu werden, dass die Römerherr-
schaft anfange zu wanken. Es ist nicht zu sagen, was hätte kom-
men mögen, wenn die Kimbrer sogleich nach ihrem Doppelsieg
durch die Alpenpforten in Italien eingerückt wären. Indess sie
überschwemmten zunächst das Gebiet der Arverner, die mühsam
in ihren Festungen der Feinde sich erwehrten, und zogen von
da, der Belagerungen müde, weiter westlich gegen die Pyrenäen.

Wenn der erstarrte Organismus der römischen Politie noch
aus sich selber zu einer heilsamen Krise gelangen konnte, so
musste sie jetzt eintreten, wo durch einen der wunderbaren
Glücksfälle, an denen die Geschichte Roms so reich ist, die Ge-
fahr nahe genug drohte um alle Energie und allen Patriotismus
in der Bürgerschaft in Bewegung zu bringen und doch nicht so
plötzlich hereinbrach, dass diesen Kräften kein Raum geblieben
wäre sich zu entwickeln. Allein es wiederholten sich nur eben
dieselben Erscheinungen, die vier Jahre zuvor nach den africani-
schen Niederlagen eingetreten waren. In der That waren die
africanischen und die gallischen Unfälle wesentlich gleicher Art.
Es mag sein, dass zunächst jene mehr der Oligarchie im Ganzen,
diese mehr einzelnen Beamten zur Last fielen; allein die öffent-
liche Meinung erkannte mit Recht in beiden vor allen Dingen den
Bankerott der Regierung, welcher in fortschreitender Entwicke-
lung zuerst die Ehre des Staats und jetzt bereits dessen Existenz
in Frage stellte. Man täuschte sich damals so wenig wie jetzt
über den wahren Sitz des Uebels, allein jetzt so wenig wie da-
mals brachte man es auch nur zu einem Versuch an der rechten
Stelle zu bessern. Man sah es wohl, dass das System die Schuld
trug; aber man blieb auch diesmal dabei stehen einzelne Perso-
nen zur Verantwortung zu ziehen -- nur entlud freilich über den
Häuptern der Oligarchie dies zweite Gewitter sich mit um so viel
schwereren Schlägen, als die Katastrophe von 649 die von 645
an Umfang und Gefährlichkeit übertraf. Zugleich zeigte das Publi-
cum abermals seinen sicheren Instinct, dass es gegen die Oligarchie
kein Mittel gebe als die Tyrannis, in dem bereitwilligen Eingehen
auf jeden Versuch namhafter Offiziere der Regierung die Hand zu
zwingen und unter dieser oder jener Form das oligarchische Re-
giment durch eine Dictatur zu stürzen. -- Zunächst war es Quintus
Caepio, gegen den die Angriffe sich richteten; mit Recht, insofern
die Niederlage von Arausio wesentlich durch seine Unbotmässig-

VIERTES BUCH. KAPITEL V.
Tags an der Allia und des Brandes von Rom. In Italien bemäch-
tigte der Gallierschreck mit der ganzen Gewalt zugleich ältester
Erinnerung und frischer Angst sich der Gemüther; im ganzen
Occident schien man es inne zu werden, daſs die Römerherr-
schaft anfange zu wanken. Es ist nicht zu sagen, was hätte kom-
men mögen, wenn die Kimbrer sogleich nach ihrem Doppelsieg
durch die Alpenpforten in Italien eingerückt wären. Indeſs sie
überschwemmten zunächst das Gebiet der Arverner, die mühsam
in ihren Festungen der Feinde sich erwehrten, und zogen von
da, der Belagerungen müde, weiter westlich gegen die Pyrenäen.

Wenn der erstarrte Organismus der römischen Politie noch
aus sich selber zu einer heilsamen Krise gelangen konnte, so
muſste sie jetzt eintreten, wo durch einen der wunderbaren
Glücksfälle, an denen die Geschichte Roms so reich ist, die Ge-
fahr nahe genug drohte um alle Energie und allen Patriotismus
in der Bürgerschaft in Bewegung zu bringen und doch nicht so
plötzlich hereinbrach, daſs diesen Kräften kein Raum geblieben
wäre sich zu entwickeln. Allein es wiederholten sich nur eben
dieselben Erscheinungen, die vier Jahre zuvor nach den africani-
schen Niederlagen eingetreten waren. In der That waren die
africanischen und die gallischen Unfälle wesentlich gleicher Art.
Es mag sein, daſs zunächst jene mehr der Oligarchie im Ganzen,
diese mehr einzelnen Beamten zur Last fielen; allein die öffent-
liche Meinung erkannte mit Recht in beiden vor allen Dingen den
Bankerott der Regierung, welcher in fortschreitender Entwicke-
lung zuerst die Ehre des Staats und jetzt bereits dessen Existenz
in Frage stellte. Man täuschte sich damals so wenig wie jetzt
über den wahren Sitz des Uebels, allein jetzt so wenig wie da-
mals brachte man es auch nur zu einem Versuch an der rechten
Stelle zu bessern. Man sah es wohl, daſs das System die Schuld
trug; aber man blieb auch diesmal dabei stehen einzelne Perso-
nen zur Verantwortung zu ziehen — nur entlud freilich über den
Häuptern der Oligarchie dies zweite Gewitter sich mit um so viel
schwereren Schlägen, als die Katastrophe von 649 die von 645
an Umfang und Gefährlichkeit übertraf. Zugleich zeigte das Publi-
cum abermals seinen sicheren Instinct, daſs es gegen die Oligarchie
kein Mittel gebe als die Tyrannis, in dem bereitwilligen Eingehen
auf jeden Versuch namhafter Offiziere der Regierung die Hand zu
zwingen und unter dieser oder jener Form das oligarchische Re-
giment durch eine Dictatur zu stürzen. — Zunächst war es Quintus
Caepio, gegen den die Angriffe sich richteten; mit Recht, insofern
die Niederlage von Arausio wesentlich durch seine Unbotmäſsig-

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[170/0180] VIERTES BUCH. KAPITEL V. Tags an der Allia und des Brandes von Rom. In Italien bemäch- tigte der Gallierschreck mit der ganzen Gewalt zugleich ältester Erinnerung und frischer Angst sich der Gemüther; im ganzen Occident schien man es inne zu werden, daſs die Römerherr- schaft anfange zu wanken. Es ist nicht zu sagen, was hätte kom- men mögen, wenn die Kimbrer sogleich nach ihrem Doppelsieg durch die Alpenpforten in Italien eingerückt wären. Indeſs sie überschwemmten zunächst das Gebiet der Arverner, die mühsam in ihren Festungen der Feinde sich erwehrten, und zogen von da, der Belagerungen müde, weiter westlich gegen die Pyrenäen. Wenn der erstarrte Organismus der römischen Politie noch aus sich selber zu einer heilsamen Krise gelangen konnte, so muſste sie jetzt eintreten, wo durch einen der wunderbaren Glücksfälle, an denen die Geschichte Roms so reich ist, die Ge- fahr nahe genug drohte um alle Energie und allen Patriotismus in der Bürgerschaft in Bewegung zu bringen und doch nicht so plötzlich hereinbrach, daſs diesen Kräften kein Raum geblieben wäre sich zu entwickeln. Allein es wiederholten sich nur eben dieselben Erscheinungen, die vier Jahre zuvor nach den africani- schen Niederlagen eingetreten waren. In der That waren die africanischen und die gallischen Unfälle wesentlich gleicher Art. Es mag sein, daſs zunächst jene mehr der Oligarchie im Ganzen, diese mehr einzelnen Beamten zur Last fielen; allein die öffent- liche Meinung erkannte mit Recht in beiden vor allen Dingen den Bankerott der Regierung, welcher in fortschreitender Entwicke- lung zuerst die Ehre des Staats und jetzt bereits dessen Existenz in Frage stellte. Man täuschte sich damals so wenig wie jetzt über den wahren Sitz des Uebels, allein jetzt so wenig wie da- mals brachte man es auch nur zu einem Versuch an der rechten Stelle zu bessern. Man sah es wohl, daſs das System die Schuld trug; aber man blieb auch diesmal dabei stehen einzelne Perso- nen zur Verantwortung zu ziehen — nur entlud freilich über den Häuptern der Oligarchie dies zweite Gewitter sich mit um so viel schwereren Schlägen, als die Katastrophe von 649 die von 645 an Umfang und Gefährlichkeit übertraf. Zugleich zeigte das Publi- cum abermals seinen sicheren Instinct, daſs es gegen die Oligarchie kein Mittel gebe als die Tyrannis, in dem bereitwilligen Eingehen auf jeden Versuch namhafter Offiziere der Regierung die Hand zu zwingen und unter dieser oder jener Form das oligarchische Re- giment durch eine Dictatur zu stürzen. — Zunächst war es Quintus Caepio, gegen den die Angriffe sich richteten; mit Recht, insofern die Niederlage von Arausio wesentlich durch seine Unbotmäſsig-

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/180>, abgerufen am 04.12.2024.