Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.DIE VÖLKER DES NORDENS. trag mit diesen ihn keineswegs verpflichtete, fügten sie sich undfolgten den Führern, die ihnen Carbo gegeben hatte, um sie über die Grenze zu geleiten. Allein diese Führer waren vielmehr an- gewiesen die Kimbrer in einen Hinterhalt zu locken, wo der Con- sul ihrer wartete. So kam es zum Kampf unweit Noreia im heu- tigen Kärnthen, in dem die Verrathenen über den Verräther sieg- ten und ihm beträchtlichen Verlust beibrachten; nur ein Unwetter, das die Kämpfenden trennte, verhinderte die vollständige Ver- nichtung der römischen Armee. Die Kimbrer hätten sogleich ihren Angriff gegen Italien richten können; sie zogen es vor sich west- wärts zu wenden. Mehr durch Vertrag mit den Helvetiern und den Sequanern als durch Gewalt der Waffen eröffneten sie sich den Weg auf das linke Rheinufer und über den Jura und bedrohten hier einige Jahre nach Carbos Niederlage abermals in nächster Nähe das römische Gebiet. Die Rheingränze und das zunächst gefähr- dete Gebiet der Allobrogen zu decken erschien 645 im südlichen Gallien ein römisches Heer unter Marcus Junius Silanus. Die Kim- brer baten ihnen Land anzuweisen, wo sie friedlich sich nieder- lassen könnten: eine Bitte, die sich allerdings nicht gewähren liess. Der Consul griff statt aller Antwort sie an; er ward vollständig geschlagen und das römische Lager erobert. Die Zahl der Gefal- lenen war so gross, dass der Senat sich veranlasst fand wie nach der cannensischen Schlacht die Trauerzeit zu beschränken; zu- gleich bewirkte er, da die Aushebung auf grosse Schwierigkei- ten stiess, die Aufhebung der vermuthlich von Gaius Gracchus herrührenden Gesetze, die die Verpflichtung zum Kriegsdienst der Zeit nach eingeschränkt hatten (S. 101). Indess die Kim- brer, statt ihren Sieg gegen die Römer zu verfolgen, sandten eine Botschaft an den Senat nach Rom, die dort die Bitte um Anweisung von Land wiederholen sollte, und beschäftigten sich inzwischen, wie es scheint, mit der Unterwerfung der umliegen- den keltischen Cantone. So hatte die römische Provinz und die neue römische Armee vor den Deutschen für den Augenblick Ruhe; dagegen stand ihnen ein neuer Feind im westlichen Kel- tenlande auf. Die Helvetier, die in den steten Kämpfen mit ihren nordöstlichen Nachbarn viel auszustehen hatten, fühlten durch das Beispiel der Kimbrer sich gereizt gleich ihnen im westlichen Gallien sich ruhigere und fruchtbarere Sitze zu suchen und hat- ten vielleicht schon bei dem Durchzug desselben sich dazu mit ihnen verbündet; jetzt überschritten unter Divicos Führung die Mannschaften der Toygener (unbekannter Lage) und der Ti- DIE VÖLKER DES NORDENS. trag mit diesen ihn keineswegs verpflichtete, fügten sie sich undfolgten den Führern, die ihnen Carbo gegeben hatte, um sie über die Grenze zu geleiten. Allein diese Führer waren vielmehr an- gewiesen die Kimbrer in einen Hinterhalt zu locken, wo der Con- sul ihrer wartete. So kam es zum Kampf unweit Noreia im heu- tigen Kärnthen, in dem die Verrathenen über den Verräther sieg- ten und ihm beträchtlichen Verlust beibrachten; nur ein Unwetter, das die Kämpfenden trennte, verhinderte die vollständige Ver- nichtung der römischen Armee. Die Kimbrer hätten sogleich ihren Angriff gegen Italien richten können; sie zogen es vor sich west- wärts zu wenden. Mehr durch Vertrag mit den Helvetiern und den Sequanern als durch Gewalt der Waffen eröffneten sie sich den Weg auf das linke Rheinufer und über den Jura und bedrohten hier einige Jahre nach Carbos Niederlage abermals in nächster Nähe das römische Gebiet. Die Rheingränze und das zunächst gefähr- dete Gebiet der Allobrogen zu decken erschien 645 im südlichen Gallien ein römisches Heer unter Marcus Junius Silanus. Die Kim- brer baten ihnen Land anzuweisen, wo sie friedlich sich nieder- lassen könnten: eine Bitte, die sich allerdings nicht gewähren lieſs. Der Consul griff statt aller Antwort sie an; er ward vollständig geschlagen und das römische Lager erobert. Die Zahl der Gefal- lenen war so groſs, daſs der Senat sich veranlaſst fand wie nach der cannensischen Schlacht die Trauerzeit zu beschränken; zu- gleich bewirkte er, da die Aushebung auf groſse Schwierigkei- ten stieſs, die Aufhebung der vermuthlich von Gaius Gracchus herrührenden Gesetze, die die Verpflichtung zum Kriegsdienst der Zeit nach eingeschränkt hatten (S. 101). Indeſs die Kim- brer, statt ihren Sieg gegen die Römer zu verfolgen, sandten eine Botschaft an den Senat nach Rom, die dort die Bitte um Anweisung von Land wiederholen sollte, und beschäftigten sich inzwischen, wie es scheint, mit der Unterwerfung der umliegen- den keltischen Cantone. So hatte die römische Provinz und die neue römische Armee vor den Deutschen für den Augenblick Ruhe; dagegen stand ihnen ein neuer Feind im westlichen Kel- tenlande auf. Die Helvetier, die in den steten Kämpfen mit ihren nordöstlichen Nachbarn viel auszustehen hatten, fühlten durch das Beispiel der Kimbrer sich gereizt gleich ihnen im westlichen Gallien sich ruhigere und fruchtbarere Sitze zu suchen und hat- ten vielleicht schon bei dem Durchzug desselben sich dazu mit ihnen verbündet; jetzt überschritten unter Divicos Führung die Mannschaften der Toygener (unbekannter Lage) und der Ti- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0177" n="167"/><fw place="top" type="header">DIE VÖLKER DES NORDENS.</fw><lb/> trag mit diesen ihn keineswegs verpflichtete, fügten sie sich und<lb/> folgten den Führern, die ihnen Carbo gegeben hatte, um sie über<lb/> die Grenze zu geleiten. Allein diese Führer waren vielmehr an-<lb/> gewiesen die Kimbrer in einen Hinterhalt zu locken, wo der Con-<lb/> sul ihrer wartete. So kam es zum Kampf unweit Noreia im heu-<lb/> tigen Kärnthen, in dem die Verrathenen über den Verräther sieg-<lb/> ten und ihm beträchtlichen Verlust beibrachten; nur ein Unwetter,<lb/> das die Kämpfenden trennte, verhinderte die vollständige Ver-<lb/> nichtung der römischen Armee. Die Kimbrer hätten sogleich ihren<lb/> Angriff gegen Italien richten können; sie zogen es vor sich west-<lb/> wärts zu wenden. Mehr durch Vertrag mit den Helvetiern und den<lb/> Sequanern als durch Gewalt der Waffen eröffneten sie sich den Weg<lb/> auf das linke Rheinufer und über den Jura und bedrohten hier<lb/> einige Jahre nach Carbos Niederlage abermals in nächster Nähe<lb/> das römische Gebiet. Die Rheingränze und das zunächst gefähr-<lb/> dete Gebiet der Allobrogen zu decken erschien 645 im südlichen<lb/> Gallien ein römisches Heer unter Marcus Junius Silanus. Die Kim-<lb/> brer baten ihnen Land anzuweisen, wo sie friedlich sich nieder-<lb/> lassen könnten: eine Bitte, die sich allerdings nicht gewähren lieſs.<lb/> Der Consul griff statt aller Antwort sie an; er ward vollständig<lb/> geschlagen und das römische Lager erobert. Die Zahl der Gefal-<lb/> lenen war so groſs, daſs der Senat sich veranlaſst fand wie nach<lb/> der cannensischen Schlacht die Trauerzeit zu beschränken; zu-<lb/> gleich bewirkte er, da die Aushebung auf groſse Schwierigkei-<lb/> ten stieſs, die Aufhebung der vermuthlich von Gaius Gracchus<lb/> herrührenden Gesetze, die die Verpflichtung zum Kriegsdienst<lb/> der Zeit nach eingeschränkt hatten (S. 101). Indeſs die Kim-<lb/> brer, statt ihren Sieg gegen die Römer zu verfolgen, sandten<lb/> eine Botschaft an den Senat nach Rom, die dort die Bitte um<lb/> Anweisung von Land wiederholen sollte, und beschäftigten sich<lb/> inzwischen, wie es scheint, mit der Unterwerfung der umliegen-<lb/> den keltischen Cantone. 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trag mit diesen ihn keineswegs verpflichtete, fügten sie sich und
folgten den Führern, die ihnen Carbo gegeben hatte, um sie über
die Grenze zu geleiten. Allein diese Führer waren vielmehr an-
gewiesen die Kimbrer in einen Hinterhalt zu locken, wo der Con-
sul ihrer wartete. So kam es zum Kampf unweit Noreia im heu-
tigen Kärnthen, in dem die Verrathenen über den Verräther sieg-
ten und ihm beträchtlichen Verlust beibrachten; nur ein Unwetter,
das die Kämpfenden trennte, verhinderte die vollständige Ver-
nichtung der römischen Armee. Die Kimbrer hätten sogleich ihren
Angriff gegen Italien richten können; sie zogen es vor sich west-
wärts zu wenden. Mehr durch Vertrag mit den Helvetiern und den
Sequanern als durch Gewalt der Waffen eröffneten sie sich den Weg
auf das linke Rheinufer und über den Jura und bedrohten hier
einige Jahre nach Carbos Niederlage abermals in nächster Nähe
das römische Gebiet. Die Rheingränze und das zunächst gefähr-
dete Gebiet der Allobrogen zu decken erschien 645 im südlichen
Gallien ein römisches Heer unter Marcus Junius Silanus. Die Kim-
brer baten ihnen Land anzuweisen, wo sie friedlich sich nieder-
lassen könnten: eine Bitte, die sich allerdings nicht gewähren lieſs.
Der Consul griff statt aller Antwort sie an; er ward vollständig
geschlagen und das römische Lager erobert. Die Zahl der Gefal-
lenen war so groſs, daſs der Senat sich veranlaſst fand wie nach
der cannensischen Schlacht die Trauerzeit zu beschränken; zu-
gleich bewirkte er, da die Aushebung auf groſse Schwierigkei-
ten stieſs, die Aufhebung der vermuthlich von Gaius Gracchus
herrührenden Gesetze, die die Verpflichtung zum Kriegsdienst
der Zeit nach eingeschränkt hatten (S. 101). Indeſs die Kim-
brer, statt ihren Sieg gegen die Römer zu verfolgen, sandten
eine Botschaft an den Senat nach Rom, die dort die Bitte um
Anweisung von Land wiederholen sollte, und beschäftigten sich
inzwischen, wie es scheint, mit der Unterwerfung der umliegen-
den keltischen Cantone. So hatte die römische Provinz und die
neue römische Armee vor den Deutschen für den Augenblick
Ruhe; dagegen stand ihnen ein neuer Feind im westlichen Kel-
tenlande auf. Die Helvetier, die in den steten Kämpfen mit ihren
nordöstlichen Nachbarn viel auszustehen hatten, fühlten durch
das Beispiel der Kimbrer sich gereizt gleich ihnen im westlichen
Gallien sich ruhigere und fruchtbarere Sitze zu suchen und hat-
ten vielleicht schon bei dem Durchzug desselben sich dazu mit
ihnen verbündet; jetzt überschritten unter Divicos Führung die
Mannschaften der Toygener (unbekannter Lage) und der Ti-
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