Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.VIERTES BUCH. KAPITEL V. geopferten Kriegsgefangenen oder Verbrechers die Zukunft wie-sen. Wie viel von diesen Sitten allgemeiner Brauch der Barba- ren, wie viel von den Kelten entlehnt, wie viel deutsches Eigen sei, wird sich nicht ausmachen lassen; nur die Weise nicht durch Priester, sondern durch Priesterinnen das Heer geleiten und lei- ten zu lassen, darf als unzweifelhaft deutsche Art angesprochen werden. So zogen die Kimbrer hinein in das unbekannte Land, ein ungeheures Knäuel mannigfaltigen Volkes, das um einen Kern deutscher Auswanderer von der Ostsee sich zusammengeballt hatte, nicht unvergleichbar den Emigrantenmassen, die in unsern Zeiten ähnlich belastet und ähnlich gemischt und nicht viel minder ins Blaue hinein übers Meer fahren; ihre schwerfällige Wagen- burg mit der Gewandtheit, die ein langes Wanderleben giebt, hin- überführend über Ströme und Gebirge, gefährlich den civilisirte- ren Nationen wie die Meereswoge und die Windsbraut, aber wie diese launisch und unberechenbar, bald rasch vordringend, bald plötzlich stockend oder seitwärts und rückwärts sich wendend. Wie ein Blitz kamen und trafen sie; wie ein Blitz waren sie ver- schwunden, und es fand sich leider in der unlebendigen Zeit, in der sie erschienen, kein Beobachter, der es werth gehalten hätte das wunderbare Meteor genau festzustellen. Als man später an- fing die Kette zu ahnen, von welcher diese Heerfahrt, die erste deutsche, die den Kreis der antiken Civilisation berührte, ein Glied ist, war längst die Kunde bis auf oberflächliche Aufzeich- nungen verschollen. Dieses heimathlose Volk der Kimbrer, das bisher von den VIERTES BUCH. KAPITEL V. geopferten Kriegsgefangenen oder Verbrechers die Zukunft wie-sen. Wie viel von diesen Sitten allgemeiner Brauch der Barba- ren, wie viel von den Kelten entlehnt, wie viel deutsches Eigen sei, wird sich nicht ausmachen lassen; nur die Weise nicht durch Priester, sondern durch Priesterinnen das Heer geleiten und lei- ten zu lassen, darf als unzweifelhaft deutsche Art angesprochen werden. So zogen die Kimbrer hinein in das unbekannte Land, ein ungeheures Knäuel mannigfaltigen Volkes, das um einen Kern deutscher Auswanderer von der Ostsee sich zusammengeballt hatte, nicht unvergleichbar den Emigrantenmassen, die in unsern Zeiten ähnlich belastet und ähnlich gemischt und nicht viel minder ins Blaue hinein übers Meer fahren; ihre schwerfällige Wagen- burg mit der Gewandtheit, die ein langes Wanderleben giebt, hin- überführend über Ströme und Gebirge, gefährlich den civilisirte- ren Nationen wie die Meereswoge und die Windsbraut, aber wie diese launisch und unberechenbar, bald rasch vordringend, bald plötzlich stockend oder seitwärts und rückwärts sich wendend. Wie ein Blitz kamen und trafen sie; wie ein Blitz waren sie ver- schwunden, und es fand sich leider in der unlebendigen Zeit, in der sie erschienen, kein Beobachter, der es werth gehalten hätte das wunderbare Meteor genau festzustellen. Als man später an- fing die Kette zu ahnen, von welcher diese Heerfahrt, die erste deutsche, die den Kreis der antiken Civilisation berührte, ein Glied ist, war längst die Kunde bis auf oberflächliche Aufzeich- nungen verschollen. Dieses heimathlose Volk der Kimbrer, das bisher von den <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0176" n="166"/><fw place="top" type="header">VIERTES BUCH. KAPITEL V.</fw><lb/> geopferten Kriegsgefangenen oder Verbrechers die Zukunft wie-<lb/> sen. Wie viel von diesen Sitten allgemeiner Brauch der Barba-<lb/> ren, wie viel von den Kelten entlehnt, wie viel deutsches Eigen<lb/> sei, wird sich nicht ausmachen lassen; nur die Weise nicht durch<lb/> Priester, sondern durch Priesterinnen das Heer geleiten und lei-<lb/> ten zu lassen, darf als unzweifelhaft deutsche Art angesprochen<lb/> werden. 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Hier hatten siebzig Jahre zu-<lb/> vor keltische Stämme sich diesseit der Alpen anzusiedeln ver-<lb/> sucht, aber auf Geheiſs der Römer den schon occupirten Boden<lb/> ohne Widerstand geräumt (I, 486); auch jetzt erwies die Furcht<lb/> der transalpinischen Völker vor dem römischen Namen sich mäch-<lb/> tig. Die Kimbrer griffen nicht an; ja da Carbo sie das Gebiet der<lb/> Gastfreunde Roms, der Taurisker, räumen hieſs, wozu der Ver-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [166/0176]
VIERTES BUCH. KAPITEL V.
geopferten Kriegsgefangenen oder Verbrechers die Zukunft wie-
sen. Wie viel von diesen Sitten allgemeiner Brauch der Barba-
ren, wie viel von den Kelten entlehnt, wie viel deutsches Eigen
sei, wird sich nicht ausmachen lassen; nur die Weise nicht durch
Priester, sondern durch Priesterinnen das Heer geleiten und lei-
ten zu lassen, darf als unzweifelhaft deutsche Art angesprochen
werden. So zogen die Kimbrer hinein in das unbekannte Land,
ein ungeheures Knäuel mannigfaltigen Volkes, das um einen Kern
deutscher Auswanderer von der Ostsee sich zusammengeballt
hatte, nicht unvergleichbar den Emigrantenmassen, die in unsern
Zeiten ähnlich belastet und ähnlich gemischt und nicht viel minder
ins Blaue hinein übers Meer fahren; ihre schwerfällige Wagen-
burg mit der Gewandtheit, die ein langes Wanderleben giebt, hin-
überführend über Ströme und Gebirge, gefährlich den civilisirte-
ren Nationen wie die Meereswoge und die Windsbraut, aber wie
diese launisch und unberechenbar, bald rasch vordringend, bald
plötzlich stockend oder seitwärts und rückwärts sich wendend.
Wie ein Blitz kamen und trafen sie; wie ein Blitz waren sie ver-
schwunden, und es fand sich leider in der unlebendigen Zeit, in
der sie erschienen, kein Beobachter, der es werth gehalten hätte
das wunderbare Meteor genau festzustellen. Als man später an-
fing die Kette zu ahnen, von welcher diese Heerfahrt, die erste
deutsche, die den Kreis der antiken Civilisation berührte, ein
Glied ist, war längst die Kunde bis auf oberflächliche Aufzeich-
nungen verschollen.
Dieses heimathlose Volk der Kimbrer, das bisher von den
Kelten an der Donau, namentlich den Boiern verhindert worden
war nach Süden vorzudringen, durchbrach in Folge der von den
Römern gegen die Donaukelten gerichteten Angriffe die Schran-
ken, sei es nun daſs die letzteren sie zu Hülfe riefen gegen die
vordringenden Legionen oder daſs sie durch den Angriff der Rö-
mer verhindert wurden ihre Nordgrenzen so wie bisher zu schir-
men. Durch das Gebiet der Skordisker einrückend in das Tau-
riskerland näherten sie im J. 641 sich den krainer Alpenpässen,
zu deren Deckung der Consul Gnaeus Papirius Carbo auf den Hö-
hen unweit Aquileia sich aufstellte. Hier hatten siebzig Jahre zu-
vor keltische Stämme sich diesseit der Alpen anzusiedeln ver-
sucht, aber auf Geheiſs der Römer den schon occupirten Boden
ohne Widerstand geräumt (I, 486); auch jetzt erwies die Furcht
der transalpinischen Völker vor dem römischen Namen sich mäch-
tig. Die Kimbrer griffen nicht an; ja da Carbo sie das Gebiet der
Gastfreunde Roms, der Taurisker, räumen hieſs, wozu der Ver-
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