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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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VIERTES BUCH. KAPITEL III.
über die Maschine der Comitien und die Möglichkeit zu verschaf-
fen den Senat und die Beamten beliebig zu terrorisiren, so ver-
gass der Gesetzgeber doch auch keineswegs auf eine reellere Ab-
hülfe für die bestehenden socialen Schäden bedacht zu sein.
Zwar die italische Domänenfrage war wesentlich abgethan. Das
Ackergesetz des Tiberius und selbst die Theilungscommission be-
standen rechtlich noch fort; das von Gaius durchgebrachte Acker-
gesetz kann nur den Zweck gehabt haben der letzteren die ihr ent-
zogene Gerichtsbarkeit wieder zu verschaffen; allein dass hiermit
nur das Princip gerettet werden sollte und die Ackervertheilung
wenn überhaupt nur in sehr beschränktem Umfang wieder auf-
genommen ward, zeigen die Zahlen der Bürgerliste, die für die
Jahre 629 und 639 genau dieselbe Kopfzahl ergiebt. Der Grund
war, wie schon gesagt, unzweifelhaft nur, dass das Domanialland,
das verständiger Weise vertheilt werden konnte, wesentlich be-
reits vertheilt war, die Frage aber wegen der von den Latinern
benutzten Domänen nur in Verbindung mit der sehr schwierigen
über die Ausdehnung des Bürgerrechts wieder aufgenommen
werden konnte. Die zwei wahrscheinlich wenig bedeutenden Co-
lonien, die Gracchus in Italien gründete, Minervia an der Stelle
des alten Skylakion (Squillace), Neptunia an der Stelle von
Tarent, sind nicht auf occupirten und eingezogenen Domänen,
sondern auf Besitzungen, die ihren bisherigen Inhabern ab-
getauscht wurden und darum auch als eigene Stadtgemein-
den gegründet, was bei den Landanweisungen der Commission
nicht geschehen konnte (S. 91). Unendlich bedeutender und
folgenreicher war es, dass Gaius Gracchus zuerst dazu schritt das
italische Proletariat in den überseeischen Gebieten des Staats
zu versorgen, indem er an die Stätte, wo Karthago gestanden,
6000 theils aus den römischen Bürgern, theils aus den itali-
schen Bundesgenossen erwählte Colonisten sendete und der
neuen Stadt Junonia das Recht einer römischen Bürgercolo-
nie verlieh. Die Anlage war wichtig, aber wichtiger noch das da-
mit festgestellte Princip der überseeischen Emigration, womit für
das italische Proletariat ein bleibender Abzugskanal und in der
That eine mehr als provisorische Hülfe eröffnet, freilich aber
auch der Grundsatz des bisherigen Staatsrechts aufgegeben ward,
Italien als das regierende, das Provinzialgebiet aber als das re-
gierte Land zu betrachten.

Zu diesen auf die grosse Frage hinsichtlich des Proletariats
unmittelbar bezüglichen Massregeln kam eine Reihe von Verfü-
gungen, die hervorgingen aus der allgemeinen Tendenz gegen-

VIERTES BUCH. KAPITEL III.
über die Maschine der Comitien und die Möglichkeit zu verschaf-
fen den Senat und die Beamten beliebig zu terrorisiren, so ver-
gaſs der Gesetzgeber doch auch keineswegs auf eine reellere Ab-
hülfe für die bestehenden socialen Schäden bedacht zu sein.
Zwar die italische Domänenfrage war wesentlich abgethan. Das
Ackergesetz des Tiberius und selbst die Theilungscommission be-
standen rechtlich noch fort; das von Gaius durchgebrachte Acker-
gesetz kann nur den Zweck gehabt haben der letzteren die ihr ent-
zogene Gerichtsbarkeit wieder zu verschaffen; allein daſs hiermit
nur das Princip gerettet werden sollte und die Ackervertheilung
wenn überhaupt nur in sehr beschränktem Umfang wieder auf-
genommen ward, zeigen die Zahlen der Bürgerliste, die für die
Jahre 629 und 639 genau dieselbe Kopfzahl ergiebt. Der Grund
war, wie schon gesagt, unzweifelhaft nur, daſs das Domanialland,
das verständiger Weise vertheilt werden konnte, wesentlich be-
reits vertheilt war, die Frage aber wegen der von den Latinern
benutzten Domänen nur in Verbindung mit der sehr schwierigen
über die Ausdehnung des Bürgerrechts wieder aufgenommen
werden konnte. Die zwei wahrscheinlich wenig bedeutenden Co-
lonien, die Gracchus in Italien gründete, Minervia an der Stelle
des alten Skylakion (Squillace), Neptunia an der Stelle von
Tarent, sind nicht auf occupirten und eingezogenen Domänen,
sondern auf Besitzungen, die ihren bisherigen Inhabern ab-
getauscht wurden und darum auch als eigene Stadtgemein-
den gegründet, was bei den Landanweisungen der Commission
nicht geschehen konnte (S. 91). Unendlich bedeutender und
folgenreicher war es, daſs Gaius Gracchus zuerst dazu schritt das
italische Proletariat in den überseeischen Gebieten des Staats
zu versorgen, indem er an die Stätte, wo Karthago gestanden,
6000 theils aus den römischen Bürgern, theils aus den itali-
schen Bundesgenossen erwählte Colonisten sendete und der
neuen Stadt Junonia das Recht einer römischen Bürgercolo-
nie verlieh. Die Anlage war wichtig, aber wichtiger noch das da-
mit festgestellte Princip der überseeischen Emigration, womit für
das italische Proletariat ein bleibender Abzugskanal und in der
That eine mehr als provisorische Hülfe eröffnet, freilich aber
auch der Grundsatz des bisherigen Staatsrechts aufgegeben ward,
Italien als das regierende, das Provinzialgebiet aber als das re-
gierte Land zu betrachten.

Zu diesen auf die groſse Frage hinsichtlich des Proletariats
unmittelbar bezüglichen Maſsregeln kam eine Reihe von Verfü-
gungen, die hervorgingen aus der allgemeinen Tendenz gegen-

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[100/0110] VIERTES BUCH. KAPITEL III. über die Maschine der Comitien und die Möglichkeit zu verschaf- fen den Senat und die Beamten beliebig zu terrorisiren, so ver- gaſs der Gesetzgeber doch auch keineswegs auf eine reellere Ab- hülfe für die bestehenden socialen Schäden bedacht zu sein. Zwar die italische Domänenfrage war wesentlich abgethan. Das Ackergesetz des Tiberius und selbst die Theilungscommission be- standen rechtlich noch fort; das von Gaius durchgebrachte Acker- gesetz kann nur den Zweck gehabt haben der letzteren die ihr ent- zogene Gerichtsbarkeit wieder zu verschaffen; allein daſs hiermit nur das Princip gerettet werden sollte und die Ackervertheilung wenn überhaupt nur in sehr beschränktem Umfang wieder auf- genommen ward, zeigen die Zahlen der Bürgerliste, die für die Jahre 629 und 639 genau dieselbe Kopfzahl ergiebt. Der Grund war, wie schon gesagt, unzweifelhaft nur, daſs das Domanialland, das verständiger Weise vertheilt werden konnte, wesentlich be- reits vertheilt war, die Frage aber wegen der von den Latinern benutzten Domänen nur in Verbindung mit der sehr schwierigen über die Ausdehnung des Bürgerrechts wieder aufgenommen werden konnte. Die zwei wahrscheinlich wenig bedeutenden Co- lonien, die Gracchus in Italien gründete, Minervia an der Stelle des alten Skylakion (Squillace), Neptunia an der Stelle von Tarent, sind nicht auf occupirten und eingezogenen Domänen, sondern auf Besitzungen, die ihren bisherigen Inhabern ab- getauscht wurden und darum auch als eigene Stadtgemein- den gegründet, was bei den Landanweisungen der Commission nicht geschehen konnte (S. 91). Unendlich bedeutender und folgenreicher war es, daſs Gaius Gracchus zuerst dazu schritt das italische Proletariat in den überseeischen Gebieten des Staats zu versorgen, indem er an die Stätte, wo Karthago gestanden, 6000 theils aus den römischen Bürgern, theils aus den itali- schen Bundesgenossen erwählte Colonisten sendete und der neuen Stadt Junonia das Recht einer römischen Bürgercolo- nie verlieh. Die Anlage war wichtig, aber wichtiger noch das da- mit festgestellte Princip der überseeischen Emigration, womit für das italische Proletariat ein bleibender Abzugskanal und in der That eine mehr als provisorische Hülfe eröffnet, freilich aber auch der Grundsatz des bisherigen Staatsrechts aufgegeben ward, Italien als das regierende, das Provinzialgebiet aber als das re- gierte Land zu betrachten. Zu diesen auf die groſse Frage hinsichtlich des Proletariats unmittelbar bezüglichen Maſsregeln kam eine Reihe von Verfü- gungen, die hervorgingen aus der allgemeinen Tendenz gegen-

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/110>, abgerufen am 27.11.2024.