Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.NICHTBUERGER UND REFORMIRTE VERFASSUNG. von nahe an 20000 Waffenfähigen und mindestens der drei-fachen Zahl von Frauen, Kindern und Greisen, nicht grund- sässigen Leuten und Knechten nothwendig anzunehmen, dass nicht bloss die Gegend zwischen Tiber und Anio gewonnen, sondern auch die albanische Mark erobert war, bevor die servianische Verfassung festgestellt wurde; womit denn auch die Sage übereinstimmt. Wie das ursprüngliche Zahlverhältniss der Patricier und Plebejer im Heere sich gestellt hat, ist nicht zu ermitteln; nach den Reitern darf es nicht beurtheilt werden, da wohl feststeht, dass in den sechs ersten Centurien kein Plebejer, nicht aber, dass in den zwölf minderen kein Patri- cier dienen durfte. -- Im Allgemeinen aber ist es einleuch- tend einerseits, dass diese servianische Institution nicht her- vorgegangen ist aus dem Ständekampf, sondern dass sie den Stempel eines reformirenden Gesetzgebers an sich trägt gleich der Verfassung des Lykurgos, des Solon, des Zaleukos; andrer- seits dass sie entstanden ist unter griechischem Einfluss. Ein- zelne Analogien können trügen, wie zum Beispiel, dass auch in Korinth die Ritterpferde auf die Wittwen und Waisen an- gewiesen wurden; aber die Entlehnung der Rüstung wie der Stellung von dem griechischen Hoplitensystem ist sicher kein zufälliges Zusammentreten, und ebenso wenig zufällig ist es, dass das wichtigste Wort in dieser reformirten Verfassung, classis ein griechisches Lehnwort ist. Erwägen wir nun, dass eben im zweiten Jahrhundert der Stadt die griechischen Staaten in Unteritalien von der reinen Geschlechterverfassung fortschritten zu einer modificirten, die das Schwergewicht in die Hände der Besitzenden legte, so werden wir ohne Be- denken hierin den Anstoss erkennen, der in Rom die servia- nische Reform hervorrief, eine im Wesentlichen auf demselben Grundgedanken beruhende und nur durch die streng monar- chische Form des römischen Staats in etwas abweichende Bahnen gelenkte Verfassungsänderung. NICHTBUERGER UND REFORMIRTE VERFASSUNG. von nahe an 20000 Waffenfähigen und mindestens der drei-fachen Zahl von Frauen, Kindern und Greisen, nicht grund- sässigen Leuten und Knechten nothwendig anzunehmen, daſs nicht bloſs die Gegend zwischen Tiber und Anio gewonnen, sondern auch die albanische Mark erobert war, bevor die servianische Verfassung festgestellt wurde; womit denn auch die Sage übereinstimmt. Wie das ursprüngliche Zahlverhältniſs der Patricier und Plebejer im Heere sich gestellt hat, ist nicht zu ermitteln; nach den Reitern darf es nicht beurtheilt werden, da wohl feststeht, daſs in den sechs ersten Centurien kein Plebejer, nicht aber, daſs in den zwölf minderen kein Patri- cier dienen durfte. — Im Allgemeinen aber ist es einleuch- tend einerseits, daſs diese servianische Institution nicht her- vorgegangen ist aus dem Ständekampf, sondern daſs sie den Stempel eines reformirenden Gesetzgebers an sich trägt gleich der Verfassung des Lykurgos, des Solon, des Zaleukos; andrer- seits daſs sie entstanden ist unter griechischem Einfluſs. Ein- zelne Analogien können trügen, wie zum Beispiel, daſs auch in Korinth die Ritterpferde auf die Wittwen und Waisen an- gewiesen wurden; aber die Entlehnung der Rüstung wie der Stellung von dem griechischen Hoplitensystem ist sicher kein zufälliges Zusammentreten, und ebenso wenig zufällig ist es, daſs das wichtigste Wort in dieser reformirten Verfassung, classis ein griechisches Lehnwort ist. Erwägen wir nun, daſs eben im zweiten Jahrhundert der Stadt die griechischen Staaten in Unteritalien von der reinen Geschlechterverfassung fortschritten zu einer modificirten, die das Schwergewicht in die Hände der Besitzenden legte, so werden wir ohne Be- denken hierin den Anstoſs erkennen, der in Rom die servia- nische Reform hervorrief, eine im Wesentlichen auf demselben Grundgedanken beruhende und nur durch die streng monar- chische Form des römischen Staats in etwas abweichende Bahnen gelenkte Verfassungsänderung. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0087" n="73"/><fw place="top" type="header">NICHTBUERGER UND REFORMIRTE VERFASSUNG.</fw><lb/> von nahe an 20000 Waffenfähigen und mindestens der drei-<lb/> fachen Zahl von Frauen, Kindern und Greisen, nicht grund-<lb/> sässigen Leuten und Knechten nothwendig anzunehmen, daſs<lb/> nicht bloſs die Gegend zwischen Tiber und Anio gewonnen,<lb/> sondern auch die albanische Mark erobert war, bevor die<lb/> servianische Verfassung festgestellt wurde; womit denn auch<lb/> die Sage übereinstimmt. Wie das ursprüngliche Zahlverhältniſs<lb/> der Patricier und Plebejer im Heere sich gestellt hat, ist nicht<lb/> zu ermitteln; nach den Reitern darf es nicht beurtheilt werden,<lb/> da wohl feststeht, daſs in den sechs ersten Centurien kein<lb/> Plebejer, nicht aber, daſs in den zwölf minderen kein Patri-<lb/> cier dienen durfte. — Im Allgemeinen aber ist es einleuch-<lb/> tend einerseits, daſs diese servianische Institution nicht her-<lb/> vorgegangen ist aus dem Ständekampf, sondern daſs sie den<lb/> Stempel eines reformirenden Gesetzgebers an sich trägt gleich<lb/> der Verfassung des Lykurgos, des Solon, des Zaleukos; andrer-<lb/> seits daſs sie entstanden ist unter griechischem Einfluſs. Ein-<lb/> zelne Analogien können trügen, wie zum Beispiel, daſs auch<lb/> in Korinth die Ritterpferde auf die Wittwen und Waisen an-<lb/> gewiesen wurden; aber die Entlehnung der Rüstung wie der<lb/> Stellung von dem griechischen Hoplitensystem ist sicher kein<lb/> zufälliges Zusammentreten, und ebenso wenig zufällig ist es,<lb/> daſs das wichtigste Wort in dieser reformirten Verfassung,<lb/><hi rendition="#i">classis</hi> ein griechisches Lehnwort ist. Erwägen wir nun,<lb/> daſs eben im zweiten Jahrhundert der Stadt die griechischen<lb/> Staaten in Unteritalien von der reinen Geschlechterverfassung<lb/> fortschritten zu einer modificirten, die das Schwergewicht in<lb/> die Hände der Besitzenden legte, so werden wir ohne Be-<lb/> denken hierin den Anstoſs erkennen, der in Rom die servia-<lb/> nische Reform hervorrief, eine im Wesentlichen auf demselben<lb/> Grundgedanken beruhende und nur durch die streng monar-<lb/> chische Form des römischen Staats in etwas abweichende<lb/> Bahnen gelenkte Verfassungsänderung.</p> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> </body> </text> </TEI> [73/0087]
NICHTBUERGER UND REFORMIRTE VERFASSUNG.
von nahe an 20000 Waffenfähigen und mindestens der drei-
fachen Zahl von Frauen, Kindern und Greisen, nicht grund-
sässigen Leuten und Knechten nothwendig anzunehmen, daſs
nicht bloſs die Gegend zwischen Tiber und Anio gewonnen,
sondern auch die albanische Mark erobert war, bevor die
servianische Verfassung festgestellt wurde; womit denn auch
die Sage übereinstimmt. Wie das ursprüngliche Zahlverhältniſs
der Patricier und Plebejer im Heere sich gestellt hat, ist nicht
zu ermitteln; nach den Reitern darf es nicht beurtheilt werden,
da wohl feststeht, daſs in den sechs ersten Centurien kein
Plebejer, nicht aber, daſs in den zwölf minderen kein Patri-
cier dienen durfte. — Im Allgemeinen aber ist es einleuch-
tend einerseits, daſs diese servianische Institution nicht her-
vorgegangen ist aus dem Ständekampf, sondern daſs sie den
Stempel eines reformirenden Gesetzgebers an sich trägt gleich
der Verfassung des Lykurgos, des Solon, des Zaleukos; andrer-
seits daſs sie entstanden ist unter griechischem Einfluſs. Ein-
zelne Analogien können trügen, wie zum Beispiel, daſs auch
in Korinth die Ritterpferde auf die Wittwen und Waisen an-
gewiesen wurden; aber die Entlehnung der Rüstung wie der
Stellung von dem griechischen Hoplitensystem ist sicher kein
zufälliges Zusammentreten, und ebenso wenig zufällig ist es,
daſs das wichtigste Wort in dieser reformirten Verfassung,
classis ein griechisches Lehnwort ist. Erwägen wir nun,
daſs eben im zweiten Jahrhundert der Stadt die griechischen
Staaten in Unteritalien von der reinen Geschlechterverfassung
fortschritten zu einer modificirten, die das Schwergewicht in
die Hände der Besitzenden legte, so werden wir ohne Be-
denken hierin den Anstoſs erkennen, der in Rom die servia-
nische Reform hervorrief, eine im Wesentlichen auf demselben
Grundgedanken beruhende und nur durch die streng monar-
chische Form des römischen Staats in etwas abweichende
Bahnen gelenkte Verfassungsänderung.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |