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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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ERSTES BUCH. KAPITEL VI.
lud (calare, comitia calata); nicht um zu reden, sondern um
zu hören, nicht um zu fragen, sondern um zu antworten.
Niemand spricht in der Versammlung als der König oder
wem er das Wort freiwillig giebt; die Rede des Volkes ist
einfache Antwort auf die Frage, ohne Debatte, ohne Bedin-
gung, ohne Begründung, ohne Fragtheilung. Im ordentlichen
Lauf der Dinge besteht die Theilnahme des Volkes am Regi-
ment darin freiwillig sich zu verpflichten. So thut der König,
nachdem er sein Amt angetreten hat, an die versammelten
Curien die Frage, ob sie ihm treu und gehorsam sein und
ihn selbst wie seine Diener, die Spürer (quaestores) und Boten
(lictores) in hergebrachter Weise anerkennen wollen; eine
Frage, die unzweifelhaft ebenso wenig verneint werden durfte
als die ihr ganz ähnliche Huldigung in der Erbmonarchie
verweigert werden darf. Eine ähnliche Ansprache (lex,
von legein) oder Anfrage (rogatio) richtet der König an das
Volk in allen ausserordentlichen Fällen, wo etwas geschehen
sollte, das der gewöhnlichen Rechtsconsequenz zuwider lief;
und hier durfte ebenso unzweifelhaft die Frage bejaht wie
verneint werden. Im gewöhnlichen Rechtslauf kann jeder
unbeschränkt sein Eigenthum weggeben an wen er will, allein
nur in der Art, dass er dasselbe sofort aufgiebt; dass das
Eigenthum vorläufig ihm bleibe und bei seinem Tode auf
einen Andern übergehe, ist rechtlich unmöglich -- es sei
denn, dass ihm das Volk solches gestatte; was hier nicht
bloss die in Curien versammelte, sondern auch die zum Kampf
sich ordnende Bürgerschaft bewilligen konnte. Dies ist der
Ursprung der Testamente. Im gewöhnlichen Rechtslauf kann
der freie Mann das unveräusserliche Gut der Freiheit nicht
verlieren noch weggeben, und darum auch, wer keinem Haus-
herrn unterthan ist, sich nicht einem andern an Sohnes Statt
unterwerfen -- es sei denn, dass ihm das Volk solches ge-
statte. Dies ist die Adrogation. Im gewöhnlichen Rechtslauf
kann das Bürgerrecht nur gewonnen werden durch die Geburt
und nicht verloren werden -- es sei denn, dass das Volk den
Patriciat verleihe oder dessen Aufgeben gestatte, was beides
unzweifelhaft ohne Curienbeschluss vor der Kaiserzeit nicht
gültig geschehen konnte. Im gewöhnlichen Rechtslauf trifft
den todeswürdigen Verbrecher, nachdem der König oder sein
Stellvertreter nach Urtheil und Recht den Spruch gethan,
unerbittlich die Todesstrafe, da der König wie jeder andere
Richter nicht begnadigen kann -- es sei denn, dass der zum

ERSTES BUCH. KAPITEL VI.
lud (calare, comitia calata); nicht um zu reden, sondern um
zu hören, nicht um zu fragen, sondern um zu antworten.
Niemand spricht in der Versammlung als der König oder
wem er das Wort freiwillig giebt; die Rede des Volkes ist
einfache Antwort auf die Frage, ohne Debatte, ohne Bedin-
gung, ohne Begründung, ohne Fragtheilung. Im ordentlichen
Lauf der Dinge besteht die Theilnahme des Volkes am Regi-
ment darin freiwillig sich zu verpflichten. So thut der König,
nachdem er sein Amt angetreten hat, an die versammelten
Curien die Frage, ob sie ihm treu und gehorsam sein und
ihn selbst wie seine Diener, die Spürer (quaestores) und Boten
(lictores) in hergebrachter Weise anerkennen wollen; eine
Frage, die unzweifelhaft ebenso wenig verneint werden durfte
als die ihr ganz ähnliche Huldigung in der Erbmonarchie
verweigert werden darf. Eine ähnliche Ansprache (lex,
von λέγειν) oder Anfrage (rogatio) richtet der König an das
Volk in allen auſserordentlichen Fällen, wo etwas geschehen
sollte, das der gewöhnlichen Rechtsconsequenz zuwider lief;
und hier durfte ebenso unzweifelhaft die Frage bejaht wie
verneint werden. Im gewöhnlichen Rechtslauf kann jeder
unbeschränkt sein Eigenthum weggeben an wen er will, allein
nur in der Art, daſs er dasselbe sofort aufgiebt; daſs das
Eigenthum vorläufig ihm bleibe und bei seinem Tode auf
einen Andern übergehe, ist rechtlich unmöglich — es sei
denn, daſs ihm das Volk solches gestatte; was hier nicht
bloſs die in Curien versammelte, sondern auch die zum Kampf
sich ordnende Bürgerschaft bewilligen konnte. Dies ist der
Ursprung der Testamente. Im gewöhnlichen Rechtslauf kann
der freie Mann das unveräuſserliche Gut der Freiheit nicht
verlieren noch weggeben, und darum auch, wer keinem Haus-
herrn unterthan ist, sich nicht einem andern an Sohnes Statt
unterwerfen — es sei denn, daſs ihm das Volk solches ge-
statte. Dies ist die Adrogation. Im gewöhnlichen Rechtslauf
kann das Bürgerrecht nur gewonnen werden durch die Geburt
und nicht verloren werden — es sei denn, daſs das Volk den
Patriciat verleihe oder dessen Aufgeben gestatte, was beides
unzweifelhaft ohne Curienbeschluſs vor der Kaiserzeit nicht
gültig geschehen konnte. Im gewöhnlichen Rechtslauf trifft
den todeswürdigen Verbrecher, nachdem der König oder sein
Stellvertreter nach Urtheil und Recht den Spruch gethan,
unerbittlich die Todesstrafe, da der König wie jeder andere
Richter nicht begnadigen kann — es sei denn, daſs der zum

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[60/0074] ERSTES BUCH. KAPITEL VI. lud (calare, comitia calata); nicht um zu reden, sondern um zu hören, nicht um zu fragen, sondern um zu antworten. Niemand spricht in der Versammlung als der König oder wem er das Wort freiwillig giebt; die Rede des Volkes ist einfache Antwort auf die Frage, ohne Debatte, ohne Bedin- gung, ohne Begründung, ohne Fragtheilung. Im ordentlichen Lauf der Dinge besteht die Theilnahme des Volkes am Regi- ment darin freiwillig sich zu verpflichten. So thut der König, nachdem er sein Amt angetreten hat, an die versammelten Curien die Frage, ob sie ihm treu und gehorsam sein und ihn selbst wie seine Diener, die Spürer (quaestores) und Boten (lictores) in hergebrachter Weise anerkennen wollen; eine Frage, die unzweifelhaft ebenso wenig verneint werden durfte als die ihr ganz ähnliche Huldigung in der Erbmonarchie verweigert werden darf. Eine ähnliche Ansprache (lex, von λέγειν) oder Anfrage (rogatio) richtet der König an das Volk in allen auſserordentlichen Fällen, wo etwas geschehen sollte, das der gewöhnlichen Rechtsconsequenz zuwider lief; und hier durfte ebenso unzweifelhaft die Frage bejaht wie verneint werden. Im gewöhnlichen Rechtslauf kann jeder unbeschränkt sein Eigenthum weggeben an wen er will, allein nur in der Art, daſs er dasselbe sofort aufgiebt; daſs das Eigenthum vorläufig ihm bleibe und bei seinem Tode auf einen Andern übergehe, ist rechtlich unmöglich — es sei denn, daſs ihm das Volk solches gestatte; was hier nicht bloſs die in Curien versammelte, sondern auch die zum Kampf sich ordnende Bürgerschaft bewilligen konnte. Dies ist der Ursprung der Testamente. Im gewöhnlichen Rechtslauf kann der freie Mann das unveräuſserliche Gut der Freiheit nicht verlieren noch weggeben, und darum auch, wer keinem Haus- herrn unterthan ist, sich nicht einem andern an Sohnes Statt unterwerfen — es sei denn, daſs ihm das Volk solches ge- statte. Dies ist die Adrogation. Im gewöhnlichen Rechtslauf kann das Bürgerrecht nur gewonnen werden durch die Geburt und nicht verloren werden — es sei denn, daſs das Volk den Patriciat verleihe oder dessen Aufgeben gestatte, was beides unzweifelhaft ohne Curienbeschluſs vor der Kaiserzeit nicht gültig geschehen konnte. Im gewöhnlichen Rechtslauf trifft den todeswürdigen Verbrecher, nachdem der König oder sein Stellvertreter nach Urtheil und Recht den Spruch gethan, unerbittlich die Todesstrafe, da der König wie jeder andere Richter nicht begnadigen kann — es sei denn, daſs der zum

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/74>, abgerufen am 24.11.2024.