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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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DER WESTEN NACH DEM HANNIBALISCHEN FRIEDEN.

Anders verfuhr man in der Landschaft diesseit des Padus,
wo der römische Senat beschlossen hatte mit den Kelten,
ein Ende zu machen und mit den Boiern zu wiederholen,
was achtzig Jahre zuvor mit den Senonen geschehen war.
Die Boier wehrten sich mit verzweifelter Entschlossenheit.
Noch einmal ward der Padus von ihnen überschritten und
ein Versuch gemacht die Insubrer wieder unter die Waffen
zu bringen (560); ein Consul ward in seinem Lager von
ihnen blokirt und wenig fehlte, dass er unterlag; Placentia
hielt sich mühsam gegen die ewigen Angriffe der erbitterten
Eingeborenen. Bei Mutina endlich ward die letzte Schlacht
geliefert; sie war lang und blutig, aber die Römer siegten
(561) und seitdem war der Krieg kein Kampf mehr, sondern
eine Hetze. Die einzige Freistatt im boischen Gebiet war
bald das römische Lager, in das der noch übrige bessere
Theil der Bevölkerung sich zu flüchten begann, und die Sieger
konnten nach Rom berichten, ohne sehr zu übertreiben, dass
von der Nation der Boier nichts mehr übrig sei als Kinder
und Greise. So freilich musste sie sich ergeben in das
Schicksal, das ihr bestimmt war. Die Römer forderten Ab-
tretung des halben Gebietes (563); sie konnte nicht verwei-
gert werden, aber auch auf dem geschmälerten Bezirk, der
den Boiern blieb, verschwanden sie bald und verschmolzen
mit ihren Siegern* Das Land südwärts vom Po, wenn es

* Nach Strab ons Bericht wären diese italischen Boier von den Römern
über die Alpen verstossen worden und aus ihnen die boische Ansiedlung
im heutigen Ungarn zwischen dem Neusiedler- und Plattensee hervorgegan-
gen, welche in der augusteischen Zeit von den über die Donau gegangenen
Geten angegriffen und vernichtet wurde, dieser Landschaft aber den Namen
der boischen Einöde hinterliess. Dieser Bericht passt sehr wenig zu der
wohlbeglaubigten Darstellung der römischen Jahrbücher, nach der man sich
römischer Seits begnügte mit der Abtretung des halben Gebietes; und um
das Verschwinden der italischen Boier zu erklären, bedarf es in der That
der Annahme einer gewaltsamen Vertreibung nicht -- verschwinden doch
auch die übrigen keltischen Völkerschaften, obwohl sie von Krieg und Co-
lonisirung in weit minderem Grade heimgesucht wurden, nicht viel weniger
rasch und vollständig aus der Reihe der italischen Nationen. Andrerseits
führen andere Berichte vielmehr darauf jene Boier am Plattensee herzuleiten
von dem Hauptstock der Nation, der ehemals in Baiern und Böhmen sass,
bis deutsche Stämme ihn südwärts drängten. Ueberall aber ist es sehr
zweifelhaft, ob die so weit versprengten Boier, die man bei Bordeaux, am
Po, in Böhmen finden, wirklich Zweige eines Stammes sind und nicht bloss
eine Namensgleichheit obwaltet. Strabons Annahme dürfte auf nichts an-
derem beruhen als auf einem Rückschluss aus dieser Namensgleichheit, wie
die Alten ihn bei den Kimbern, Venetern und sonst, oft unüberlegt, anwandten.
DER WESTEN NACH DEM HANNIBALISCHEN FRIEDEN.

Anders verfuhr man in der Landschaft diesseit des Padus,
wo der römische Senat beschlossen hatte mit den Kelten,
ein Ende zu machen und mit den Boiern zu wiederholen,
was achtzig Jahre zuvor mit den Senonen geschehen war.
Die Boier wehrten sich mit verzweifelter Entschlossenheit.
Noch einmal ward der Padus von ihnen überschritten und
ein Versuch gemacht die Insubrer wieder unter die Waffen
zu bringen (560); ein Consul ward in seinem Lager von
ihnen blokirt und wenig fehlte, daſs er unterlag; Placentia
hielt sich mühsam gegen die ewigen Angriffe der erbitterten
Eingeborenen. Bei Mutina endlich ward die letzte Schlacht
geliefert; sie war lang und blutig, aber die Römer siegten
(561) und seitdem war der Krieg kein Kampf mehr, sondern
eine Hetze. Die einzige Freistatt im boischen Gebiet war
bald das römische Lager, in das der noch übrige bessere
Theil der Bevölkerung sich zu flüchten begann, und die Sieger
konnten nach Rom berichten, ohne sehr zu übertreiben, daſs
von der Nation der Boier nichts mehr übrig sei als Kinder
und Greise. So freilich muſste sie sich ergeben in das
Schicksal, das ihr bestimmt war. Die Römer forderten Ab-
tretung des halben Gebietes (563); sie konnte nicht verwei-
gert werden, aber auch auf dem geschmälerten Bezirk, der
den Boiern blieb, verschwanden sie bald und verschmolzen
mit ihren Siegern* Das Land südwärts vom Po, wenn es

* Nach Strab ons Bericht wären diese italischen Boier von den Römern
über die Alpen verstoſsen worden und aus ihnen die boische Ansiedlung
im heutigen Ungarn zwischen dem Neusiedler- und Plattensee hervorgegan-
gen, welche in der augusteischen Zeit von den über die Donau gegangenen
Geten angegriffen und vernichtet wurde, dieser Landschaft aber den Namen
der boischen Einöde hinterlieſs. Dieser Bericht paſst sehr wenig zu der
wohlbeglaubigten Darstellung der römischen Jahrbücher, nach der man sich
römischer Seits begnügte mit der Abtretung des halben Gebietes; und um
das Verschwinden der italischen Boier zu erklären, bedarf es in der That
der Annahme einer gewaltsamen Vertreibung nicht — verschwinden doch
auch die übrigen keltischen Völkerschaften, obwohl sie von Krieg und Co-
lonisirung in weit minderem Grade heimgesucht wurden, nicht viel weniger
rasch und vollständig aus der Reihe der italischen Nationen. Andrerseits
führen andere Berichte vielmehr darauf jene Boier am Plattensee herzuleiten
von dem Hauptstock der Nation, der ehemals in Baiern und Böhmen saſs,
bis deutsche Stämme ihn südwärts drängten. Ueberall aber ist es sehr
zweifelhaft, ob die so weit versprengten Boier, die man bei Bordeaux, am
Po, in Böhmen finden, wirklich Zweige eines Stammes sind und nicht bloſs
eine Namensgleichheit obwaltet. Strabons Annahme dürfte auf nichts an-
derem beruhen als auf einem Rückschluſs aus dieser Namensgleichheit, wie
die Alten ihn bei den Kimbern, Venetern und sonst, oft unüberlegt, anwandten.
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[487/0501] DER WESTEN NACH DEM HANNIBALISCHEN FRIEDEN. Anders verfuhr man in der Landschaft diesseit des Padus, wo der römische Senat beschlossen hatte mit den Kelten, ein Ende zu machen und mit den Boiern zu wiederholen, was achtzig Jahre zuvor mit den Senonen geschehen war. Die Boier wehrten sich mit verzweifelter Entschlossenheit. Noch einmal ward der Padus von ihnen überschritten und ein Versuch gemacht die Insubrer wieder unter die Waffen zu bringen (560); ein Consul ward in seinem Lager von ihnen blokirt und wenig fehlte, daſs er unterlag; Placentia hielt sich mühsam gegen die ewigen Angriffe der erbitterten Eingeborenen. Bei Mutina endlich ward die letzte Schlacht geliefert; sie war lang und blutig, aber die Römer siegten (561) und seitdem war der Krieg kein Kampf mehr, sondern eine Hetze. Die einzige Freistatt im boischen Gebiet war bald das römische Lager, in das der noch übrige bessere Theil der Bevölkerung sich zu flüchten begann, und die Sieger konnten nach Rom berichten, ohne sehr zu übertreiben, daſs von der Nation der Boier nichts mehr übrig sei als Kinder und Greise. So freilich muſste sie sich ergeben in das Schicksal, das ihr bestimmt war. Die Römer forderten Ab- tretung des halben Gebietes (563); sie konnte nicht verwei- gert werden, aber auch auf dem geschmälerten Bezirk, der den Boiern blieb, verschwanden sie bald und verschmolzen mit ihren Siegern * Das Land südwärts vom Po, wenn es * Nach Strab ons Bericht wären diese italischen Boier von den Römern über die Alpen verstoſsen worden und aus ihnen die boische Ansiedlung im heutigen Ungarn zwischen dem Neusiedler- und Plattensee hervorgegan- gen, welche in der augusteischen Zeit von den über die Donau gegangenen Geten angegriffen und vernichtet wurde, dieser Landschaft aber den Namen der boischen Einöde hinterlieſs. Dieser Bericht paſst sehr wenig zu der wohlbeglaubigten Darstellung der römischen Jahrbücher, nach der man sich römischer Seits begnügte mit der Abtretung des halben Gebietes; und um das Verschwinden der italischen Boier zu erklären, bedarf es in der That der Annahme einer gewaltsamen Vertreibung nicht — verschwinden doch auch die übrigen keltischen Völkerschaften, obwohl sie von Krieg und Co- lonisirung in weit minderem Grade heimgesucht wurden, nicht viel weniger rasch und vollständig aus der Reihe der italischen Nationen. Andrerseits führen andere Berichte vielmehr darauf jene Boier am Plattensee herzuleiten von dem Hauptstock der Nation, der ehemals in Baiern und Böhmen saſs, bis deutsche Stämme ihn südwärts drängten. Ueberall aber ist es sehr zweifelhaft, ob die so weit versprengten Boier, die man bei Bordeaux, am Po, in Böhmen finden, wirklich Zweige eines Stammes sind und nicht bloſs eine Namensgleichheit obwaltet. Strabons Annahme dürfte auf nichts an- derem beruhen als auf einem Rückschluſs aus dieser Namensgleichheit, wie die Alten ihn bei den Kimbern, Venetern und sonst, oft unüberlegt, anwandten.

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 487. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/501>, abgerufen am 22.11.2024.