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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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HANNIBALISCHER KRIEG.
zuvor an der Trebia das Leben gerettet hatte, der männlich
schöne junge Mann mit den langen Locken, der bescheiden
erröthend in Ermangelung eines Besseren sich darbot für den
Posten der Gefahr; der einfache Kriegstribun, den nun auf
einmal die Stimmen der Centurien zu der höchsten Amt-
staffel erhoben -- das alles machte auf die römischen Bürger
und Bauern einen wunderbaren und unauslöschlichen Eindruck.
Und in der That, Publius Scipio war eine begeisterte und be-
geisternde Natur. Er ist keiner jener Wenigen, die mit ihrem
eisernen Willen die Welt in neue Gleise zwingen, um sie
auf Jahrhunderte hinaus durch Menschenkraft zu bestimmen;
oder die doch auf Jahre dem Schicksal in die Zügel fallen,
bis die Räder über sie hinrollen. Geniale Neubildungen, wie
sie Rom wohl in jener Zeit bedurft hätte, hat Publius Scipio
nicht versucht; er hat im Auftrag des Senats Schlachten ge-
wonnen und Länder erobert, aber es ist weit von da bis zu
Caesar und Alexander. Als Krieger und Staatsmann ist er für
sein Vaterland nicht mehr gewesen als etwa Gaius Catulus
und Marcus Marcellus; der besondere Zauber aber, der auf
dieser anmuthigen Heldengestalt ruht, ist jene blendende Au-
reole heiterer und sicherer Begeisterung, mit der er halb
gläubig halb geschickt sich umgab. Mit gerade genug Schwär-
merei um die Herzen zu erwärmen und genug Berechnung,
um das Verständige überall entscheiden und das Gemeine
nicht aus dem Ansatz wegzulassen; nicht naiv genug um den
Glauben der Menge an seine göttlichen Inspirationen zu thei-
len noch schlicht genug ihn zu beseitigen, und doch im Stillen
innig überzeugt ein Mann von Gottes besonderen Gnaden zu
sein; mit einem Wort eine ächte Prophetennatur; über dem
Volke stehend und nicht minder ausser dem Volke; ein Mann
felsenfesten Worts und königlichen Sinns, der durch Annahme
des gemeinen Königtitels sich zu erniedrigen meinte, aber ebenso
wenig begreifen konnte, dass die Verfassung der Republik auch
ihn band; seiner Grösse so sicher, dass er nichts wusste
von Neid und Hass und fremdes Verdienst leutselig aner-
kannte, fremde Fehler mitleidig verzieh; ein vorzüglicher
Offizier und feingebildeter Diplomat ohne das abstossende
Sondergepräge dieses oder jenes Berufs, hellenische Bildung
einigend mit dem vollsten römischen Nationalgefühl, redege-
wandt und anmuthiger Sitte, gewann Publius Scipio die Her-
zen der Soldaten und der Frauen, seiner Landsleute und der
Spanier, seiner Nebenbuhler im Senat und seines grösseren

29*

HANNIBALISCHER KRIEG.
zuvor an der Trebia das Leben gerettet hatte, der männlich
schöne junge Mann mit den langen Locken, der bescheiden
erröthend in Ermangelung eines Besseren sich darbot für den
Posten der Gefahr; der einfache Kriegstribun, den nun auf
einmal die Stimmen der Centurien zu der höchsten Amt-
staffel erhoben — das alles machte auf die römischen Bürger
und Bauern einen wunderbaren und unauslöschlichen Eindruck.
Und in der That, Publius Scipio war eine begeisterte und be-
geisternde Natur. Er ist keiner jener Wenigen, die mit ihrem
eisernen Willen die Welt in neue Gleise zwingen, um sie
auf Jahrhunderte hinaus durch Menschenkraft zu bestimmen;
oder die doch auf Jahre dem Schicksal in die Zügel fallen,
bis die Räder über sie hinrollen. Geniale Neubildungen, wie
sie Rom wohl in jener Zeit bedurft hätte, hat Publius Scipio
nicht versucht; er hat im Auftrag des Senats Schlachten ge-
wonnen und Länder erobert, aber es ist weit von da bis zu
Caesar und Alexander. Als Krieger und Staatsmann ist er für
sein Vaterland nicht mehr gewesen als etwa Gaius Catulus
und Marcus Marcellus; der besondere Zauber aber, der auf
dieser anmuthigen Heldengestalt ruht, ist jene blendende Au-
reole heiterer und sicherer Begeisterung, mit der er halb
gläubig halb geschickt sich umgab. Mit gerade genug Schwär-
merei um die Herzen zu erwärmen und genug Berechnung,
um das Verständige überall entscheiden und das Gemeine
nicht aus dem Ansatz wegzulassen; nicht naiv genug um den
Glauben der Menge an seine göttlichen Inspirationen zu thei-
len noch schlicht genug ihn zu beseitigen, und doch im Stillen
innig überzeugt ein Mann von Gottes besonderen Gnaden zu
sein; mit einem Wort eine ächte Prophetennatur; über dem
Volke stehend und nicht minder auſser dem Volke; ein Mann
felsenfesten Worts und königlichen Sinns, der durch Annahme
des gemeinen Königtitels sich zu erniedrigen meinte, aber ebenso
wenig begreifen konnte, daſs die Verfassung der Republik auch
ihn band; seiner Gröſse so sicher, daſs er nichts wuſste
von Neid und Haſs und fremdes Verdienst leutselig aner-
kannte, fremde Fehler mitleidig verzieh; ein vorzüglicher
Offizier und feingebildeter Diplomat ohne das abstoſsende
Sondergepräge dieses oder jenes Berufs, hellenische Bildung
einigend mit dem vollsten römischen Nationalgefühl, redege-
wandt und anmuthiger Sitte, gewann Publius Scipio die Her-
zen der Soldaten und der Frauen, seiner Landsleute und der
Spanier, seiner Nebenbuhler im Senat und seines gröſseren

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[451/0465] HANNIBALISCHER KRIEG. zuvor an der Trebia das Leben gerettet hatte, der männlich schöne junge Mann mit den langen Locken, der bescheiden erröthend in Ermangelung eines Besseren sich darbot für den Posten der Gefahr; der einfache Kriegstribun, den nun auf einmal die Stimmen der Centurien zu der höchsten Amt- staffel erhoben — das alles machte auf die römischen Bürger und Bauern einen wunderbaren und unauslöschlichen Eindruck. Und in der That, Publius Scipio war eine begeisterte und be- geisternde Natur. Er ist keiner jener Wenigen, die mit ihrem eisernen Willen die Welt in neue Gleise zwingen, um sie auf Jahrhunderte hinaus durch Menschenkraft zu bestimmen; oder die doch auf Jahre dem Schicksal in die Zügel fallen, bis die Räder über sie hinrollen. Geniale Neubildungen, wie sie Rom wohl in jener Zeit bedurft hätte, hat Publius Scipio nicht versucht; er hat im Auftrag des Senats Schlachten ge- wonnen und Länder erobert, aber es ist weit von da bis zu Caesar und Alexander. Als Krieger und Staatsmann ist er für sein Vaterland nicht mehr gewesen als etwa Gaius Catulus und Marcus Marcellus; der besondere Zauber aber, der auf dieser anmuthigen Heldengestalt ruht, ist jene blendende Au- reole heiterer und sicherer Begeisterung, mit der er halb gläubig halb geschickt sich umgab. Mit gerade genug Schwär- merei um die Herzen zu erwärmen und genug Berechnung, um das Verständige überall entscheiden und das Gemeine nicht aus dem Ansatz wegzulassen; nicht naiv genug um den Glauben der Menge an seine göttlichen Inspirationen zu thei- len noch schlicht genug ihn zu beseitigen, und doch im Stillen innig überzeugt ein Mann von Gottes besonderen Gnaden zu sein; mit einem Wort eine ächte Prophetennatur; über dem Volke stehend und nicht minder auſser dem Volke; ein Mann felsenfesten Worts und königlichen Sinns, der durch Annahme des gemeinen Königtitels sich zu erniedrigen meinte, aber ebenso wenig begreifen konnte, daſs die Verfassung der Republik auch ihn band; seiner Gröſse so sicher, daſs er nichts wuſste von Neid und Haſs und fremdes Verdienst leutselig aner- kannte, fremde Fehler mitleidig verzieh; ein vorzüglicher Offizier und feingebildeter Diplomat ohne das abstoſsende Sondergepräge dieses oder jenes Berufs, hellenische Bildung einigend mit dem vollsten römischen Nationalgefühl, redege- wandt und anmuthiger Sitte, gewann Publius Scipio die Her- zen der Soldaten und der Frauen, seiner Landsleute und der Spanier, seiner Nebenbuhler im Senat und seines gröſseren 29*

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 451. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/465>, abgerufen am 28.11.2024.