Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.DRITTES BUCH. KAPITEL I. Depeschen erst den Richtern vorlegt und dann dem Volke,theils dass die Furcht vor der regelmässig nach dem Erfolg abgemessenen Controle daheim in Rath und That den kartha- gischen Staatsmann wie den Feldherrn lähmte. -- Die kar- thagische Bürgerschaft scheint, wenn auch nicht wie in Sparta ausdrücklich auf die passive Assistenz bei den Staatshandlun- gen beschränkt, doch thatsächlich dabei nur in einem sehr geringen Grade von Einfluss gewesen zu sein. Bei den Wah- len in die Gerusia war ein offenkundiges Bestechungssystem Regel; bei der Ernennung eines Feldherrn wurde das Volk zwar befragt, aber wohl erst wenn durch Vorschlag der Ge- rusia der Sache nach die Ernennung erfolgt war; und in an- deren Fragen ging man nur an das Volk, wenn die Gerusia es für gut fand oder sich nicht einigen konnte. Volksgerichte kannte man in Karthago nicht. Die Machtlosigkeit der Bür- gerschaft ward wahrscheinlich wesentlich durch ihre politische Organisirung bedingt; die karthagischen Tischgenossenschaften, die hiebei erwähnt und den spartanischen Pheiditien verglichen werden, mögen oligarchisch geleitete Zünfte gewesen sein. Sogar ein Gegensatz zwischen ,Stadtbürgern' und ,Handarbei- tern' wird erwähnt, der auf eine sehr niedrige, vielleicht recht- lose Stellung der letzteren schliessen lässt. -- Fassen wir die einzelnen Momente zusammen, so erscheint die karthagische Verfassung als ein Capitalistenregiment, wie es begreiflich ist bei einer Bürgergemeinde ohne ansässigen Mittelstand, die einerseits aus einer besitzlosen von der Hand in den Mund lebenden städtischen Menge bestand, andrerseits aus Gross- händlern, Plantagenbesitzern und vornehmen Vögten. Das System die heruntergekommenen Herren auf Kosten der Un- terthanen zu bereichern, indem sie ausgesendet werden als Schatzungsbeamte und Frohnvögte in die abhängigen Gemein- den, dieses unfehlbare Kennzeichen einer verrotteten städti- schen Oligarchie, fehlt auch in Karthago nicht; Aristoteles bezeichnet es als die wesentliche Ursache der Dauerhaftigkeit und Stabilität der karthagischen Verfassung. Es ist wohl be- zeugt, dass in Karthago weder von oben noch von unten jemals eine nennenswerthe Revolution stattgefunden hatte und dass die demokratische Opposition noch zur Zeit des ersten punischen Krieges völlig machtlos war, indem sich die Menge begnügte mit den in Form der Wahlbestechungen und sonst ihr zufallenden nutzbaren Rechten der Herr- schaft und führerlos blieb in Folge der materiellen Vortheile DRITTES BUCH. KAPITEL I. Depeschen erst den Richtern vorlegt und dann dem Volke,theils daſs die Furcht vor der regelmäſsig nach dem Erfolg abgemessenen Controle daheim in Rath und That den kartha- gischen Staatsmann wie den Feldherrn lähmte. — Die kar- thagische Bürgerschaft scheint, wenn auch nicht wie in Sparta ausdrücklich auf die passive Assistenz bei den Staatshandlun- gen beschränkt, doch thatsächlich dabei nur in einem sehr geringen Grade von Einfluſs gewesen zu sein. Bei den Wah- len in die Gerusia war ein offenkundiges Bestechungssystem Regel; bei der Ernennung eines Feldherrn wurde das Volk zwar befragt, aber wohl erst wenn durch Vorschlag der Ge- rusia der Sache nach die Ernennung erfolgt war; und in an- deren Fragen ging man nur an das Volk, wenn die Gerusia es für gut fand oder sich nicht einigen konnte. Volksgerichte kannte man in Karthago nicht. Die Machtlosigkeit der Bür- gerschaft ward wahrscheinlich wesentlich durch ihre politische Organisirung bedingt; die karthagischen Tischgenossenschaften, die hiebei erwähnt und den spartanischen Pheiditien verglichen werden, mögen oligarchisch geleitete Zünfte gewesen sein. Sogar ein Gegensatz zwischen ‚Stadtbürgern‘ und ‚Handarbei- tern‘ wird erwähnt, der auf eine sehr niedrige, vielleicht recht- lose Stellung der letzteren schlieſsen läſst. — Fassen wir die einzelnen Momente zusammen, so erscheint die karthagische Verfassung als ein Capitalistenregiment, wie es begreiflich ist bei einer Bürgergemeinde ohne ansässigen Mittelstand, die einerseits aus einer besitzlosen von der Hand in den Mund lebenden städtischen Menge bestand, andrerseits aus Groſs- händlern, Plantagenbesitzern und vornehmen Vögten. Das System die heruntergekommenen Herren auf Kosten der Un- terthanen zu bereichern, indem sie ausgesendet werden als Schatzungsbeamte und Frohnvögte in die abhängigen Gemein- den, dieses unfehlbare Kennzeichen einer verrotteten städti- schen Oligarchie, fehlt auch in Karthago nicht; Aristoteles bezeichnet es als die wesentliche Ursache der Dauerhaftigkeit und Stabilität der karthagischen Verfassung. Es ist wohl be- zeugt, daſs in Karthago weder von oben noch von unten jemals eine nennenswerthe Revolution stattgefunden hatte und daſs die demokratische Opposition noch zur Zeit des ersten punischen Krieges völlig machtlos war, indem sich die Menge begnügte mit den in Form der Wahlbestechungen und sonst ihr zufallenden nutzbaren Rechten der Herr- schaft und führerlos blieb in Folge der materiellen Vortheile <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0336" n="322"/><fw place="top" type="header">DRITTES BUCH. 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DRITTES BUCH. KAPITEL I.
Depeschen erst den Richtern vorlegt und dann dem Volke,
theils daſs die Furcht vor der regelmäſsig nach dem Erfolg
abgemessenen Controle daheim in Rath und That den kartha-
gischen Staatsmann wie den Feldherrn lähmte. — Die kar-
thagische Bürgerschaft scheint, wenn auch nicht wie in Sparta
ausdrücklich auf die passive Assistenz bei den Staatshandlun-
gen beschränkt, doch thatsächlich dabei nur in einem sehr
geringen Grade von Einfluſs gewesen zu sein. Bei den Wah-
len in die Gerusia war ein offenkundiges Bestechungssystem
Regel; bei der Ernennung eines Feldherrn wurde das Volk
zwar befragt, aber wohl erst wenn durch Vorschlag der Ge-
rusia der Sache nach die Ernennung erfolgt war; und in an-
deren Fragen ging man nur an das Volk, wenn die Gerusia
es für gut fand oder sich nicht einigen konnte. Volksgerichte
kannte man in Karthago nicht. Die Machtlosigkeit der Bür-
gerschaft ward wahrscheinlich wesentlich durch ihre politische
Organisirung bedingt; die karthagischen Tischgenossenschaften,
die hiebei erwähnt und den spartanischen Pheiditien verglichen
werden, mögen oligarchisch geleitete Zünfte gewesen sein.
Sogar ein Gegensatz zwischen ‚Stadtbürgern‘ und ‚Handarbei-
tern‘ wird erwähnt, der auf eine sehr niedrige, vielleicht recht-
lose Stellung der letzteren schlieſsen läſst. — Fassen wir die
einzelnen Momente zusammen, so erscheint die karthagische
Verfassung als ein Capitalistenregiment, wie es begreiflich ist
bei einer Bürgergemeinde ohne ansässigen Mittelstand, die
einerseits aus einer besitzlosen von der Hand in den Mund
lebenden städtischen Menge bestand, andrerseits aus Groſs-
händlern, Plantagenbesitzern und vornehmen Vögten. Das
System die heruntergekommenen Herren auf Kosten der Un-
terthanen zu bereichern, indem sie ausgesendet werden als
Schatzungsbeamte und Frohnvögte in die abhängigen Gemein-
den, dieses unfehlbare Kennzeichen einer verrotteten städti-
schen Oligarchie, fehlt auch in Karthago nicht; Aristoteles
bezeichnet es als die wesentliche Ursache der Dauerhaftigkeit
und Stabilität der karthagischen Verfassung. Es ist wohl be-
zeugt, daſs in Karthago weder von oben noch von unten
jemals eine nennenswerthe Revolution stattgefunden hatte
und daſs die demokratische Opposition noch zur Zeit des
ersten punischen Krieges völlig machtlos war, indem sich die
Menge begnügte mit den in Form der Wahlbestechungen
und sonst ihr zufallenden nutzbaren Rechten der Herr-
schaft und führerlos blieb in Folge der materiellen Vortheile
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