Zahlen sind dieselben bis hundert (sanskritisch catam, ekaca- tam, lateinisch centum, griechisch e-katon, gothisch hund); der Mond heisst in allen Sprachen davon, dass man nach ihm die Zeit misst (mensis), und nicht blos der Begriff der Gottheit (sanskritisch devas, lateinisch deus, griechisch theos) gehört zum ältesten Volksgut, sondern auch manche der älte- sten Naturbilder und Natursagen; wie denn der griechische Uranos der Varunas, der Zeus oder Iovis pater, Diespiter der Djaus pita der Veden, der Hermeias ursprünglich Sarameyas, der Rasche, von dem Namen der Götterhündin Sarama metrony- misch gebildet ist, und zum Beispiel die griechische Sage von dem Raub der Rinder des Helios, die wohl mit der römischen Cacussage zusammenhängt, ihre sinnvolle Naturerklärung erst in der indischen Mythologie findet, ebenso die Erinnyenbilder in ihrem altersgrauen räthselhaften Geheimniss mit den älte- sten Hellenen aus dem Osten eingewandert zu sein scheinen. Die Sonderung des gemeinsamen Erbgutes von dem wohler- worbenen Eigen jeder Nation in Sitte und Sprache vollkommen durchzuführen bleibt einer Zeit vorbehalten, wo die Geschicht- schreibung ihre grossartige Aufgabe tiefer als es die unsrige thut erfassen und es auch hier verschmähen wird ,in Ketten zu reden'.
Wenn die Aufgabe den Culturgrad zu bestimmen, den die Indogermanen vor der Scheidung der Stämme erreichten, mehr der allgemeinen Geschichte der alten Welt angehört, so ist es dagegen speciell Aufgabe der italischen Geschichte zu ermitteln, so weit es möglich ist, auf welchem Stande die graecoitalische Nation sich befand, als Hellenen und Italiker sich von einander schieden. Denn die Verwandtschaft der Griechen und der Lateiner in Sprache und Sitte, welche ent- schieden eine engere ist als die beider Nationen mit den Kelten oder Slaven, ja selbst als die mit den ihnen noch am nächsten stehenden Germanen, lässt daran keinen Zweifel, dass nicht die Stammväter der Griechen und die der Italiker jede für sich aus der Heimath entlassen worden sind, sondern dass sie ursprünglich eine graecoitalische Nation gebildet haben. Es ist keine überflüssige Arbeit, wenn wir fragen, wie weit in dieser Epoche die Nation gelangt war; wir gewinnen damit den Anfangspunkt der italischen Civilisation, den Ausgangs- punkt der nationalen Geschichte. -- Alle Spuren deuten da- hin, dass, während die Indogermanen wahrscheinlich ein Hir- tenleben führten und die Halmfrucht vielleicht sammelten und assen, nicht aber bauten, die Graecoitaliker ein korn-, vielleicht
ERSTES BUCH. KAPITEL II.
Zahlen sind dieselben bis hundert (sanskritisch çatam, êkaça- tam, lateinisch centum, griechisch ἑ-ϰατόν, gothisch hund); der Mond heiſst in allen Sprachen davon, daſs man nach ihm die Zeit miſst (mensis), und nicht blos der Begriff der Gottheit (sanskritisch dêvas, lateinisch deus, griechisch ϑεός) gehört zum ältesten Volksgut, sondern auch manche der älte- sten Naturbilder und Natursagen; wie denn der griechische Uranos der Varunas, der Zeus oder Iovis pater, Diespiter der Djâus pitâ der Veden, der Hermeias ursprünglich Sâramêyas, der Rasche, von dem Namen der Götterhündin Saramâ metrony- misch gebildet ist, und zum Beispiel die griechische Sage von dem Raub der Rinder des Helios, die wohl mit der römischen Cacussage zusammenhängt, ihre sinnvolle Naturerklärung erst in der indischen Mythologie findet, ebenso die Erinnyenbilder in ihrem altersgrauen räthselhaften Geheimniſs mit den älte- sten Hellenen aus dem Osten eingewandert zu sein scheinen. Die Sonderung des gemeinsamen Erbgutes von dem wohler- worbenen Eigen jeder Nation in Sitte und Sprache vollkommen durchzuführen bleibt einer Zeit vorbehalten, wo die Geschicht- schreibung ihre groſsartige Aufgabe tiefer als es die unsrige thut erfassen und es auch hier verschmähen wird ‚in Ketten zu reden‘.
Wenn die Aufgabe den Culturgrad zu bestimmen, den die Indogermanen vor der Scheidung der Stämme erreichten, mehr der allgemeinen Geschichte der alten Welt angehört, so ist es dagegen speciell Aufgabe der italischen Geschichte zu ermitteln, so weit es möglich ist, auf welchem Stande die graecoitalische Nation sich befand, als Hellenen und Italiker sich von einander schieden. Denn die Verwandtschaft der Griechen und der Lateiner in Sprache und Sitte, welche ent- schieden eine engere ist als die beider Nationen mit den Kelten oder Slaven, ja selbst als die mit den ihnen noch am nächsten stehenden Germanen, läſst daran keinen Zweifel, daſs nicht die Stammväter der Griechen und die der Italiker jede für sich aus der Heimath entlassen worden sind, sondern daſs sie ursprünglich eine graecoitalische Nation gebildet haben. Es ist keine überflüssige Arbeit, wenn wir fragen, wie weit in dieser Epoche die Nation gelangt war; wir gewinnen damit den Anfangspunkt der italischen Civilisation, den Ausgangs- punkt der nationalen Geschichte. — Alle Spuren deuten da- hin, daſs, während die Indogermanen wahrscheinlich ein Hir- tenleben führten und die Halmfrucht vielleicht sammelten und aſsen, nicht aber bauten, die Graecoitaliker ein korn-, vielleicht
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ERSTES BUCH. KAPITEL II.
Zahlen sind dieselben bis hundert (sanskritisch çatam, êkaça-
tam, lateinisch centum, griechisch ἑ-ϰατόν, gothisch hund);
der Mond heiſst in allen Sprachen davon, daſs man nach ihm
die Zeit miſst (mensis), und nicht blos der Begriff der
Gottheit (sanskritisch dêvas, lateinisch deus, griechisch ϑεός)
gehört zum ältesten Volksgut, sondern auch manche der älte-
sten Naturbilder und Natursagen; wie denn der griechische
Uranos der Varunas, der Zeus oder Iovis pater, Diespiter der
Djâus pitâ der Veden, der Hermeias ursprünglich Sâramêyas,
der Rasche, von dem Namen der Götterhündin Saramâ metrony-
misch gebildet ist, und zum Beispiel die griechische Sage von
dem Raub der Rinder des Helios, die wohl mit der römischen
Cacussage zusammenhängt, ihre sinnvolle Naturerklärung erst
in der indischen Mythologie findet, ebenso die Erinnyenbilder
in ihrem altersgrauen räthselhaften Geheimniſs mit den älte-
sten Hellenen aus dem Osten eingewandert zu sein scheinen.
Die Sonderung des gemeinsamen Erbgutes von dem wohler-
worbenen Eigen jeder Nation in Sitte und Sprache vollkommen
durchzuführen bleibt einer Zeit vorbehalten, wo die Geschicht-
schreibung ihre groſsartige Aufgabe tiefer als es die unsrige thut
erfassen und es auch hier verschmähen wird ‚in Ketten zu reden‘.
Wenn die Aufgabe den Culturgrad zu bestimmen, den
die Indogermanen vor der Scheidung der Stämme erreichten,
mehr der allgemeinen Geschichte der alten Welt angehört, so
ist es dagegen speciell Aufgabe der italischen Geschichte zu
ermitteln, so weit es möglich ist, auf welchem Stande die
graecoitalische Nation sich befand, als Hellenen und Italiker
sich von einander schieden. Denn die Verwandtschaft der
Griechen und der Lateiner in Sprache und Sitte, welche ent-
schieden eine engere ist als die beider Nationen mit den
Kelten oder Slaven, ja selbst als die mit den ihnen noch am
nächsten stehenden Germanen, läſst daran keinen Zweifel,
daſs nicht die Stammväter der Griechen und die der Italiker
jede für sich aus der Heimath entlassen worden sind, sondern
daſs sie ursprünglich eine graecoitalische Nation gebildet haben.
Es ist keine überflüssige Arbeit, wenn wir fragen, wie weit in
dieser Epoche die Nation gelangt war; wir gewinnen damit
den Anfangspunkt der italischen Civilisation, den Ausgangs-
punkt der nationalen Geschichte. — Alle Spuren deuten da-
hin, daſs, während die Indogermanen wahrscheinlich ein Hir-
tenleben führten und die Halmfrucht vielleicht sammelten und
aſsen, nicht aber bauten, die Graecoitaliker ein korn-, vielleicht
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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/28>, abgerufen am 16.02.2025.
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