Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

AELTESTE EINWANDERUNGEN IN ITALIEN.
Zeit (um 400 Roms) von barbarischen Iapygern bewohnt, ist
im sechsten Jahrhundert der Stadt, ohne dass irgend eine
directe Colonisirung von Griechenland aus dort stattgefunden
hätte, eine durchaus griechische Landschaft geworden, und
selbst bei dem rohen Volke der Messapier zeigen sich viel-
fache Ansätze zu einer analogen Entwickelung. -- Was wir
von diesem Volke jetzt wissen, genügt wohl um dasselbe von
den übrigen Italikern bestimmt zu unterscheiden, nicht aber
um positiv den Platz zu bestimmen, welcher dieser Sprache
und diesem Volk in der grossen indogermanischen Familie
zukommt, der doch auch die Iapyger wahrscheinlich angehör-
ten. Diese Lücke ist indess nicht sehr empfindlich; denn nur
weichend und verschwindend zeigt sich uns dieser beim Be-
ginn unserer Geschichte schon im Untergehen begriffene Volks-
stamm. Der wenig widerstandsfähige, leicht in andere Natio-
nalitäten sich auflösende Charakter der iapygischen Nation
passt wohl zu der Annahme, welche durch ihre geographische
Lage wahrscheinlich gemacht wird, dass dies die ältesten Ein-
wanderer oder die historischen Autochthonen Italiens sind.
Denn unzweifelhaft sind die ältesten Wanderungen der Völker
alle zu Lande erfolgt; zumal in Italien, dessen Küste zur See
nur von kundigen Schiffern erreicht werden kann und desshalb
noch in Homers Zeit den Hellenen völlig unbekannt war.
Kamen aber die frühesten Ansiedler über den Apennin, so
kann, wie der Geolog aus der Schichtung der Gebirge ihre
Entstehung erschliesst, auch der Geschichtsforscher die Ver-
muthung wagen, dass die am weitesten nach Süden geschobe-
nen Stämme die ältesten Bewohner Italiens sein werden; und
eben hier am äussersten südöstlichen Saume begegnen wir
der iapygischen Nation.

Die Mitte der Halbinsel ist, so weit unsere zuverlässige
Ueberlieferung zurückreicht, bewohnt von zwei Völkern oder
vielmehr zwei Stämmen desselben Volkes, dessen Stellung in
dem indogermanischen Volksstamm sich mit grösserer Sicher-
heit bestimmen lässt als dies bei der iapygischen Nation der
Fall war. Wir dürfen dies Volk billig das italische heissen,
da auf ihm die geschichtliche Bedeutung der Halbinsel wesent-
lich beruht; es theilt sich in die beiden Stämme der Latiner
und der Umbrer mit den südlichen Ausläufern der letzteren,
den Marsern und Samniten und den schon in geschichtlicher
Zeit von den Samniten ausgesandten Völkerschaften. Die
sprachliche Analyse dieser drei Idiome hat gezeigt, dass sie

AELTESTE EINWANDERUNGEN IN ITALIEN.
Zeit (um 400 Roms) von barbarischen Iapygern bewohnt, ist
im sechsten Jahrhundert der Stadt, ohne daſs irgend eine
directe Colonisirung von Griechenland aus dort stattgefunden
hätte, eine durchaus griechische Landschaft geworden, und
selbst bei dem rohen Volke der Messapier zeigen sich viel-
fache Ansätze zu einer analogen Entwickelung. — Was wir
von diesem Volke jetzt wissen, genügt wohl um dasselbe von
den übrigen Italikern bestimmt zu unterscheiden, nicht aber
um positiv den Platz zu bestimmen, welcher dieser Sprache
und diesem Volk in der groſsen indogermanischen Familie
zukommt, der doch auch die Iapyger wahrscheinlich angehör-
ten. Diese Lücke ist indeſs nicht sehr empfindlich; denn nur
weichend und verschwindend zeigt sich uns dieser beim Be-
ginn unserer Geschichte schon im Untergehen begriffene Volks-
stamm. Der wenig widerstandsfähige, leicht in andere Natio-
nalitäten sich auflösende Charakter der iapygischen Nation
paſst wohl zu der Annahme, welche durch ihre geographische
Lage wahrscheinlich gemacht wird, daſs dies die ältesten Ein-
wanderer oder die historischen Autochthonen Italiens sind.
Denn unzweifelhaft sind die ältesten Wanderungen der Völker
alle zu Lande erfolgt; zumal in Italien, dessen Küste zur See
nur von kundigen Schiffern erreicht werden kann und deſshalb
noch in Homers Zeit den Hellenen völlig unbekannt war.
Kamen aber die frühesten Ansiedler über den Apennin, so
kann, wie der Geolog aus der Schichtung der Gebirge ihre
Entstehung erschlieſst, auch der Geschichtsforscher die Ver-
muthung wagen, dass die am weitesten nach Süden geschobe-
nen Stämme die ältesten Bewohner Italiens sein werden; und
eben hier am äuſsersten südöstlichen Saume begegnen wir
der iapygischen Nation.

Die Mitte der Halbinsel ist, so weit unsere zuverlässige
Ueberlieferung zurückreicht, bewohnt von zwei Völkern oder
vielmehr zwei Stämmen desselben Volkes, dessen Stellung in
dem indogermanischen Volksstamm sich mit gröſserer Sicher-
heit bestimmen läſst als dies bei der iapygischen Nation der
Fall war. Wir dürfen dies Volk billig das italische heiſsen,
da auf ihm die geschichtliche Bedeutung der Halbinsel wesent-
lich beruht; es theilt sich in die beiden Stämme der Latiner
und der Umbrer mit den südlichen Ausläufern der letzteren,
den Marsern und Samniten und den schon in geschichtlicher
Zeit von den Samniten ausgesandten Völkerschaften. Die
sprachliche Analyse dieser drei Idiome hat gezeigt, dass sie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0023" n="9"/><fw place="top" type="header">AELTESTE EINWANDERUNGEN IN ITALIEN.</fw><lb/>
Zeit (um 400 Roms) von barbarischen Iapygern bewohnt, ist<lb/>
im sechsten Jahrhundert der Stadt, ohne da&#x017F;s irgend eine<lb/>
directe Colonisirung von Griechenland aus dort stattgefunden<lb/>
hätte, eine durchaus griechische Landschaft geworden, und<lb/>
selbst bei dem rohen Volke der Messapier zeigen sich viel-<lb/>
fache Ansätze zu einer analogen Entwickelung. &#x2014; Was wir<lb/>
von diesem Volke jetzt wissen, genügt wohl um dasselbe von<lb/>
den übrigen Italikern bestimmt zu unterscheiden, nicht aber<lb/>
um positiv den Platz zu bestimmen, welcher dieser Sprache<lb/>
und diesem Volk in der gro&#x017F;sen indogermanischen Familie<lb/>
zukommt, der doch auch die Iapyger wahrscheinlich angehör-<lb/>
ten. Diese Lücke ist inde&#x017F;s nicht sehr empfindlich; denn nur<lb/>
weichend und verschwindend zeigt sich uns dieser beim Be-<lb/>
ginn unserer Geschichte schon im Untergehen begriffene Volks-<lb/>
stamm. Der wenig widerstandsfähige, leicht in andere Natio-<lb/>
nalitäten sich auflösende Charakter der iapygischen Nation<lb/>
pa&#x017F;st wohl zu der Annahme, welche durch ihre geographische<lb/>
Lage wahrscheinlich gemacht wird, da&#x017F;s dies die ältesten Ein-<lb/>
wanderer oder die historischen Autochthonen Italiens sind.<lb/>
Denn unzweifelhaft sind die ältesten Wanderungen der Völker<lb/>
alle zu Lande erfolgt; zumal in Italien, dessen Küste zur See<lb/>
nur von kundigen Schiffern erreicht werden kann und de&#x017F;shalb<lb/>
noch in Homers Zeit den Hellenen völlig unbekannt war.<lb/>
Kamen aber die frühesten Ansiedler über den Apennin, so<lb/>
kann, wie der Geolog aus der Schichtung der Gebirge ihre<lb/>
Entstehung erschlie&#x017F;st, auch der Geschichtsforscher die Ver-<lb/>
muthung wagen, dass die am weitesten nach Süden geschobe-<lb/>
nen Stämme die ältesten Bewohner Italiens sein werden; und<lb/>
eben hier am äu&#x017F;sersten südöstlichen Saume begegnen wir<lb/>
der iapygischen Nation.</p><lb/>
          <p>Die Mitte der Halbinsel ist, so weit unsere zuverlässige<lb/>
Ueberlieferung zurückreicht, bewohnt von zwei Völkern oder<lb/>
vielmehr zwei Stämmen desselben Volkes, dessen Stellung in<lb/>
dem indogermanischen Volksstamm sich mit grö&#x017F;serer Sicher-<lb/>
heit bestimmen lä&#x017F;st als dies bei der iapygischen Nation der<lb/>
Fall war. Wir dürfen dies Volk billig das italische hei&#x017F;sen,<lb/>
da auf ihm die geschichtliche Bedeutung der Halbinsel wesent-<lb/>
lich beruht; es theilt sich in die beiden Stämme der Latiner<lb/>
und der Umbrer mit den südlichen Ausläufern der letzteren,<lb/>
den Marsern und Samniten und den schon in geschichtlicher<lb/>
Zeit von den Samniten ausgesandten Völkerschaften. Die<lb/>
sprachliche Analyse dieser drei Idiome hat gezeigt, dass sie<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[9/0023] AELTESTE EINWANDERUNGEN IN ITALIEN. Zeit (um 400 Roms) von barbarischen Iapygern bewohnt, ist im sechsten Jahrhundert der Stadt, ohne daſs irgend eine directe Colonisirung von Griechenland aus dort stattgefunden hätte, eine durchaus griechische Landschaft geworden, und selbst bei dem rohen Volke der Messapier zeigen sich viel- fache Ansätze zu einer analogen Entwickelung. — Was wir von diesem Volke jetzt wissen, genügt wohl um dasselbe von den übrigen Italikern bestimmt zu unterscheiden, nicht aber um positiv den Platz zu bestimmen, welcher dieser Sprache und diesem Volk in der groſsen indogermanischen Familie zukommt, der doch auch die Iapyger wahrscheinlich angehör- ten. Diese Lücke ist indeſs nicht sehr empfindlich; denn nur weichend und verschwindend zeigt sich uns dieser beim Be- ginn unserer Geschichte schon im Untergehen begriffene Volks- stamm. Der wenig widerstandsfähige, leicht in andere Natio- nalitäten sich auflösende Charakter der iapygischen Nation paſst wohl zu der Annahme, welche durch ihre geographische Lage wahrscheinlich gemacht wird, daſs dies die ältesten Ein- wanderer oder die historischen Autochthonen Italiens sind. Denn unzweifelhaft sind die ältesten Wanderungen der Völker alle zu Lande erfolgt; zumal in Italien, dessen Küste zur See nur von kundigen Schiffern erreicht werden kann und deſshalb noch in Homers Zeit den Hellenen völlig unbekannt war. Kamen aber die frühesten Ansiedler über den Apennin, so kann, wie der Geolog aus der Schichtung der Gebirge ihre Entstehung erschlieſst, auch der Geschichtsforscher die Ver- muthung wagen, dass die am weitesten nach Süden geschobe- nen Stämme die ältesten Bewohner Italiens sein werden; und eben hier am äuſsersten südöstlichen Saume begegnen wir der iapygischen Nation. Die Mitte der Halbinsel ist, so weit unsere zuverlässige Ueberlieferung zurückreicht, bewohnt von zwei Völkern oder vielmehr zwei Stämmen desselben Volkes, dessen Stellung in dem indogermanischen Volksstamm sich mit gröſserer Sicher- heit bestimmen läſst als dies bei der iapygischen Nation der Fall war. Wir dürfen dies Volk billig das italische heiſsen, da auf ihm die geschichtliche Bedeutung der Halbinsel wesent- lich beruht; es theilt sich in die beiden Stämme der Latiner und der Umbrer mit den südlichen Ausläufern der letzteren, den Marsern und Samniten und den schon in geschichtlicher Zeit von den Samniten ausgesandten Völkerschaften. Die sprachliche Analyse dieser drei Idiome hat gezeigt, dass sie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/23
Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/23>, abgerufen am 21.11.2024.