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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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VOLKSTRIBUNAT UND DECEMVIRN.
physischen und geistigen Kräfte der Nation. Es ist aber nicht
einmal richtig; wie schon das beweist, dass die italischen
Staaten ebenso regelmässig ohne Tyrannen geblieben sind wie
sie in den hellenischen regelmässig aufstanden. Der Grund
liegt einfach darin, dass die Tyrannis überall die Folge des
allgemeinen Stimmrechts ist und dass die Italiker länger als
die Griechen die nicht grundsässigen Bürger von den Gemein-
deversammlungen ausschlossen; als Rom hiervon abging, blieb
auch die Monarchie nicht aus, ja knüpfte eben an an das
tribunicische Amt. Dass das Volkstribunat auch genützt hat,
indem es der Opposition gesetzliche Bahnen wies und manche
Verkehrtheit abwehrte, wird Niemand verkennen; aber ebenso
wenig, dass wo es sich nützlich erwies, es für ganz andere
Dinge gebraucht ward als wofür man es begründet hatte. Das
verwegene Experiment den Führern der Opposition ein ver-
fassungsmässiges Veto einzuräumen und die Macht es rück-
sichtslos geltend zu machen, bleibt ein Nothbehelf, durch den
der Staat politisch desorganisirt und die socialen Missstände
durch ewige Palliative ziellos hingeschleppt wurden.

Der somit organisirte Bürgerkrieg ging seinen Gang. Wie
zur Schlacht standen die Parteien sich gegenüber, jede unter
ihren Führern; Beschränkung der consularischen, Erweiterung
der tribunicischen Gewalt ward auf der einen, die Vernich-
tung des Tribunats auf der andern Seite angestrebt; die ge-
setzlich straflos gemachte Insubordination, die Weigerung sich
zur Landesvertheidigung zu stellen waren die Waffen der Ple-
bejer, denen die Junker Gewalt und Einverständnisse mit den
Landesfeinden, gelegentlich auch den Dolch des Meuchelmör-
ders entgegensetzten; auf den Strassen kam es zum Handge-
menge und hüben und drüben vergriff man sich an der Hei-
ligkeit der Magistratspersonen. Es zeigt von dem starken
Bürgersinn im Volk, nicht dass es diese Verfassung sich gab,
sondern dass es sie ertrug und die Gemeinde trotz der hef-
tigsten Krämpfe dennoch zusammenhielt. Das bekannteste
Ereigniss aus diesen Ständekämpfen ist die Geschichte des
Gaius Marcius, eines tapferen Adlichen, der von Corioli's Er-
stürmung den Beinamen trug. Er soll im Jahr 263, erbittert
über die Weigerung der Centurien ihm das Consulat zu über-
tragen, beantragt haben, wie Einige sagen, die Einstellung der
Getreideverkäufe aus den Staatsmagazinen, bis das hungernde
Volk auf das Tribunat verzichte; wie Andere berichten, gera-
dezu die Abschaffung des Tribunats. Angeklagt von den Tri-

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VOLKSTRIBUNAT UND DECEMVIRN.
physischen und geistigen Kräfte der Nation. Es ist aber nicht
einmal richtig; wie schon das beweist, daſs die italischen
Staaten ebenso regelmäſsig ohne Tyrannen geblieben sind wie
sie in den hellenischen regelmäſsig aufstanden. Der Grund
liegt einfach darin, daſs die Tyrannis überall die Folge des
allgemeinen Stimmrechts ist und daſs die Italiker länger als
die Griechen die nicht grundsässigen Bürger von den Gemein-
deversammlungen ausschlossen; als Rom hiervon abging, blieb
auch die Monarchie nicht aus, ja knüpfte eben an an das
tribunicische Amt. Daſs das Volkstribunat auch genützt hat,
indem es der Opposition gesetzliche Bahnen wies und manche
Verkehrtheit abwehrte, wird Niemand verkennen; aber ebenso
wenig, daſs wo es sich nützlich erwies, es für ganz andere
Dinge gebraucht ward als wofür man es begründet hatte. Das
verwegene Experiment den Führern der Opposition ein ver-
fassungsmäſsiges Veto einzuräumen und die Macht es rück-
sichtslos geltend zu machen, bleibt ein Nothbehelf, durch den
der Staat politisch desorganisirt und die socialen Miſsstände
durch ewige Palliative ziellos hingeschleppt wurden.

Der somit organisirte Bürgerkrieg ging seinen Gang. Wie
zur Schlacht standen die Parteien sich gegenüber, jede unter
ihren Führern; Beschränkung der consularischen, Erweiterung
der tribunicischen Gewalt ward auf der einen, die Vernich-
tung des Tribunats auf der andern Seite angestrebt; die ge-
setzlich straflos gemachte Insubordination, die Weigerung sich
zur Landesvertheidigung zu stellen waren die Waffen der Ple-
bejer, denen die Junker Gewalt und Einverständnisse mit den
Landesfeinden, gelegentlich auch den Dolch des Meuchelmör-
ders entgegensetzten; auf den Straſsen kam es zum Handge-
menge und hüben und drüben vergriff man sich an der Hei-
ligkeit der Magistratspersonen. Es zeigt von dem starken
Bürgersinn im Volk, nicht daſs es diese Verfassung sich gab,
sondern daſs es sie ertrug und die Gemeinde trotz der hef-
tigsten Krämpfe dennoch zusammenhielt. Das bekannteste
Ereigniſs aus diesen Ständekämpfen ist die Geschichte des
Gaius Marcius, eines tapferen Adlichen, der von Corioli's Er-
stürmung den Beinamen trug. Er soll im Jahr 263, erbittert
über die Weigerung der Centurien ihm das Consulat zu über-
tragen, beantragt haben, wie Einige sagen, die Einstellung der
Getreideverkäufe aus den Staatsmagazinen, bis das hungernde
Volk auf das Tribunat verzichte; wie Andere berichten, gera-
dezu die Abschaffung des Tribunats. Angeklagt von den Tri-

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[179/0193] VOLKSTRIBUNAT UND DECEMVIRN. physischen und geistigen Kräfte der Nation. Es ist aber nicht einmal richtig; wie schon das beweist, daſs die italischen Staaten ebenso regelmäſsig ohne Tyrannen geblieben sind wie sie in den hellenischen regelmäſsig aufstanden. Der Grund liegt einfach darin, daſs die Tyrannis überall die Folge des allgemeinen Stimmrechts ist und daſs die Italiker länger als die Griechen die nicht grundsässigen Bürger von den Gemein- deversammlungen ausschlossen; als Rom hiervon abging, blieb auch die Monarchie nicht aus, ja knüpfte eben an an das tribunicische Amt. Daſs das Volkstribunat auch genützt hat, indem es der Opposition gesetzliche Bahnen wies und manche Verkehrtheit abwehrte, wird Niemand verkennen; aber ebenso wenig, daſs wo es sich nützlich erwies, es für ganz andere Dinge gebraucht ward als wofür man es begründet hatte. Das verwegene Experiment den Führern der Opposition ein ver- fassungsmäſsiges Veto einzuräumen und die Macht es rück- sichtslos geltend zu machen, bleibt ein Nothbehelf, durch den der Staat politisch desorganisirt und die socialen Miſsstände durch ewige Palliative ziellos hingeschleppt wurden. Der somit organisirte Bürgerkrieg ging seinen Gang. Wie zur Schlacht standen die Parteien sich gegenüber, jede unter ihren Führern; Beschränkung der consularischen, Erweiterung der tribunicischen Gewalt ward auf der einen, die Vernich- tung des Tribunats auf der andern Seite angestrebt; die ge- setzlich straflos gemachte Insubordination, die Weigerung sich zur Landesvertheidigung zu stellen waren die Waffen der Ple- bejer, denen die Junker Gewalt und Einverständnisse mit den Landesfeinden, gelegentlich auch den Dolch des Meuchelmör- ders entgegensetzten; auf den Straſsen kam es zum Handge- menge und hüben und drüben vergriff man sich an der Hei- ligkeit der Magistratspersonen. Es zeigt von dem starken Bürgersinn im Volk, nicht daſs es diese Verfassung sich gab, sondern daſs es sie ertrug und die Gemeinde trotz der hef- tigsten Krämpfe dennoch zusammenhielt. Das bekannteste Ereigniſs aus diesen Ständekämpfen ist die Geschichte des Gaius Marcius, eines tapferen Adlichen, der von Corioli's Er- stürmung den Beinamen trug. Er soll im Jahr 263, erbittert über die Weigerung der Centurien ihm das Consulat zu über- tragen, beantragt haben, wie Einige sagen, die Einstellung der Getreideverkäufe aus den Staatsmagazinen, bis das hungernde Volk auf das Tribunat verzichte; wie Andere berichten, gera- dezu die Abschaffung des Tribunats. Angeklagt von den Tri- 12*

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/193>, abgerufen am 22.11.2024.