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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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ZWEITES BUCH. KAPITEL I.
deutung der Centurien, die ja doch im Wesentlichen nur die
Ansässigen umschlossen, als durch das Provocationsrecht, das
das Haupt und den Rücken auch des ärmsten Bürgers vor
dem allgewaltigen Herrn des Volkes schützte. Es ist kein
Zweifel, dass theils die festere Regulirung des Niederlassungs-
rechtes sowohl den latinischen Eidgenossen als andern Staa-
ten gegenüber eben hierdurch hervorgerufen ward, theils die
scharfe und stolze Abgrenzung der cives Romani gegen das
Ausland im Sinn und Geist des Volkes auf diese Zeit
zurückgeht. Der Gegensatz zwischen Patriciern und Ple-
bejern war ein städtischer, der zwischen Römern und
Fremden ein politischer; das Gefühl der staatlichen Ein-
heit, der beginnenden Grossmacht war mit diesem in die
Herzen der Nation gepflanzt, um jene kleinlichen Differenzen
erst zu untergraben und sodann im allmächtigen Strom mit
sich fortzureissen.

Dies war die Zeit, wo Gesetz und Verordnung sich schie-
den. Begründet zwar liegt der Gegensatz in dem innersten
Wesen des römischen Staates; denn auch die römische Königs-
gewalt stand unter, nicht über dem Landrecht. Allein die
tiefe und praktische Ehrfurcht, welche die Römer wie jedes
andere politisch fähige Volk vor dem Princip der Autorität
hegten, erzeugte den merkwürdigen Satz des römischen Staats-
und Privatrechts, dass jeder nicht auf ein Gesetz gegründete
Befehl des Beamten zwar während der Dauer seines Amtes
gelte, aber mit diesem wegfalle. Es ist einleuchtend, dass
hiebei, so lange die Vorsteher auf Lebenszeit ernannt wurden,
der Unterschied zwischen Gesetz und Verordnung praktisch
fast verschwinden musste und die legislative Thätigkeit der
Gemeindeversammlung keine Entwicklung gewinnen konnte.
Umgekehrt erhielt sie einen weiten Spielraum, als die Vor-
steher jährlich wechselnde wurden, und es war jetzt keines-
wegs ohne praktische Bedeutung, dass, wenn der Consul bei
der Entscheidung eines Prozesses eine rechtliche Nullität be-
ging, sein Nachfolger eine neue Instruction der Sache an-
ordnen konnte.

Dies war endlich die Zeit, wo die bürgerliche und die
militärische Gewalt sich von einander sonderten. Dort herrscht
das Gesetz, hier die Beile; dort waren die constitutionellen
Beschränkungen der Provocation und der regulirten Mandirung
massgebend, hier schaltete der Feldherr unumschränkt wie der
König. Es stellte sich fest, dass der Feldherr und das Heer

ZWEITES BUCH. KAPITEL I.
deutung der Centurien, die ja doch im Wesentlichen nur die
Ansässigen umschlossen, als durch das Provocationsrecht, das
das Haupt und den Rücken auch des ärmsten Bürgers vor
dem allgewaltigen Herrn des Volkes schützte. Es ist kein
Zweifel, daſs theils die festere Regulirung des Niederlassungs-
rechtes sowohl den latinischen Eidgenossen als andern Staa-
ten gegenüber eben hierdurch hervorgerufen ward, theils die
scharfe und stolze Abgrenzung der cives Romani gegen das
Ausland im Sinn und Geist des Volkes auf diese Zeit
zurückgeht. Der Gegensatz zwischen Patriciern und Ple-
bejern war ein städtischer, der zwischen Römern und
Fremden ein politischer; das Gefühl der staatlichen Ein-
heit, der beginnenden Groſsmacht war mit diesem in die
Herzen der Nation gepflanzt, um jene kleinlichen Differenzen
erst zu untergraben und sodann im allmächtigen Strom mit
sich fortzureiſsen.

Dies war die Zeit, wo Gesetz und Verordnung sich schie-
den. Begründet zwar liegt der Gegensatz in dem innersten
Wesen des römischen Staates; denn auch die römische Königs-
gewalt stand unter, nicht über dem Landrecht. Allein die
tiefe und praktische Ehrfurcht, welche die Römer wie jedes
andere politisch fähige Volk vor dem Princip der Autorität
hegten, erzeugte den merkwürdigen Satz des römischen Staats-
und Privatrechts, daſs jeder nicht auf ein Gesetz gegründete
Befehl des Beamten zwar während der Dauer seines Amtes
gelte, aber mit diesem wegfalle. Es ist einleuchtend, daſs
hiebei, so lange die Vorsteher auf Lebenszeit ernannt wurden,
der Unterschied zwischen Gesetz und Verordnung praktisch
fast verschwinden muſste und die legislative Thätigkeit der
Gemeindeversammlung keine Entwicklung gewinnen konnte.
Umgekehrt erhielt sie einen weiten Spielraum, als die Vor-
steher jährlich wechselnde wurden, und es war jetzt keines-
wegs ohne praktische Bedeutung, daſs, wenn der Consul bei
der Entscheidung eines Prozesses eine rechtliche Nullität be-
ging, sein Nachfolger eine neue Instruction der Sache an-
ordnen konnte.

Dies war endlich die Zeit, wo die bürgerliche und die
militärische Gewalt sich von einander sonderten. Dort herrscht
das Gesetz, hier die Beile; dort waren die constitutionellen
Beschränkungen der Provocation und der regulirten Mandirung
maſsgebend, hier schaltete der Feldherr unumschränkt wie der
König. Es stellte sich fest, daſs der Feldherr und das Heer

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[166/0180] ZWEITES BUCH. KAPITEL I. deutung der Centurien, die ja doch im Wesentlichen nur die Ansässigen umschlossen, als durch das Provocationsrecht, das das Haupt und den Rücken auch des ärmsten Bürgers vor dem allgewaltigen Herrn des Volkes schützte. Es ist kein Zweifel, daſs theils die festere Regulirung des Niederlassungs- rechtes sowohl den latinischen Eidgenossen als andern Staa- ten gegenüber eben hierdurch hervorgerufen ward, theils die scharfe und stolze Abgrenzung der cives Romani gegen das Ausland im Sinn und Geist des Volkes auf diese Zeit zurückgeht. Der Gegensatz zwischen Patriciern und Ple- bejern war ein städtischer, der zwischen Römern und Fremden ein politischer; das Gefühl der staatlichen Ein- heit, der beginnenden Groſsmacht war mit diesem in die Herzen der Nation gepflanzt, um jene kleinlichen Differenzen erst zu untergraben und sodann im allmächtigen Strom mit sich fortzureiſsen. Dies war die Zeit, wo Gesetz und Verordnung sich schie- den. Begründet zwar liegt der Gegensatz in dem innersten Wesen des römischen Staates; denn auch die römische Königs- gewalt stand unter, nicht über dem Landrecht. Allein die tiefe und praktische Ehrfurcht, welche die Römer wie jedes andere politisch fähige Volk vor dem Princip der Autorität hegten, erzeugte den merkwürdigen Satz des römischen Staats- und Privatrechts, daſs jeder nicht auf ein Gesetz gegründete Befehl des Beamten zwar während der Dauer seines Amtes gelte, aber mit diesem wegfalle. Es ist einleuchtend, daſs hiebei, so lange die Vorsteher auf Lebenszeit ernannt wurden, der Unterschied zwischen Gesetz und Verordnung praktisch fast verschwinden muſste und die legislative Thätigkeit der Gemeindeversammlung keine Entwicklung gewinnen konnte. Umgekehrt erhielt sie einen weiten Spielraum, als die Vor- steher jährlich wechselnde wurden, und es war jetzt keines- wegs ohne praktische Bedeutung, daſs, wenn der Consul bei der Entscheidung eines Prozesses eine rechtliche Nullität be- ging, sein Nachfolger eine neue Instruction der Sache an- ordnen konnte. Dies war endlich die Zeit, wo die bürgerliche und die militärische Gewalt sich von einander sonderten. Dort herrscht das Gesetz, hier die Beile; dort waren die constitutionellen Beschränkungen der Provocation und der regulirten Mandirung maſsgebend, hier schaltete der Feldherr unumschränkt wie der König. Es stellte sich fest, daſs der Feldherr und das Heer

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/180>, abgerufen am 24.11.2024.