len brauchen, wie bei uns, wo ihnen der Winter gleich über den Hals kommt. Hier ist man sicher, von jetzt bis Weihnachten schönes Wetter zu behalten. Die Obstbäume haben zwei Monate geblüht, jetzt sind wir bei den Jasmi- nen und den zahllosen Rosen, die alle Gärten füllen, auch fängt man schon an Erdbeeren und Kirschen auszubieten. Jm Ganzen muß ich doch gestehen, daß ich den Frühling nicht so schön, wie bei uns finde; es ist nicht dieser schnelle, zauberische Uebergang, und es fehlt die Hauptzierde, der Laubwald. Zur Zeit der griechischen Kaiser waren noch beide Ufer des Bosphorus mit Wald bedeckt, jetzt sind sie kahle und unangebaute Höhen. Wo aber in den Thälern noch einzelne Bäume stehen geblieben, da sind sie auch pracht- volle wahre Berge von Zweigen und Laub. Man kann sich überhaupt des Gedankens nicht erwehren, was Konstanti- nopel ist, und was es sein könnte, wenn hier eine gute Regierung und ein arbeitsames Volk wohnten.
Viel Vergnügen macht es mir immer, den Bosphorus hinauf zu wandern, bald zu Fuß, bald im Kahn, bald auf der europäischen, bald auf der asiatischen Seite. Um den Rückweg braucht man sich nicht zu kümmern; man setzt oder legt sich in eins der zierlichen, leichten Kaiks, die alle Gewässer hier bedecken. Der Bosphorus, welcher mit gro- ßer Schnelligkeit stets nach Konstantinopel zufließt, führt uns, selbst wenn die Ruderer nicht wären, in kurzer Zeit wieder heim.
Vor einigen Tagen waren wir wieder die Gäste des Sultans oder vielmehr seines Defterdars oder Schatzmei- sters. Man feierte auf einer großen Wiese, die süßen Wasser genannt, ein Volksfest, wegen Beschneidung der jungen Prinzen, zu welchem man auch das diplomatische Corps eingeladen hatte. Da diese Feier ächt türkisch ist, so gab man uns auch ein ächt-türkisches Diner, natürlich ohne Messer und Gabeln und ohne Wein. Den Anfang der zahllosen Schüsseln machte ein gebratenes Lamm, in- wendig mit Reis und Rosinen gefüllt. Jeder riß sich ein
len brauchen, wie bei uns, wo ihnen der Winter gleich uͤber den Hals kommt. Hier iſt man ſicher, von jetzt bis Weihnachten ſchoͤnes Wetter zu behalten. Die Obſtbaͤume haben zwei Monate gebluͤht, jetzt ſind wir bei den Jasmi- nen und den zahlloſen Roſen, die alle Gaͤrten fuͤllen, auch faͤngt man ſchon an Erdbeeren und Kirſchen auszubieten. Jm Ganzen muß ich doch geſtehen, daß ich den Fruͤhling nicht ſo ſchoͤn, wie bei uns finde; es iſt nicht dieſer ſchnelle, zauberiſche Uebergang, und es fehlt die Hauptzierde, der Laubwald. Zur Zeit der griechiſchen Kaiſer waren noch beide Ufer des Bosphorus mit Wald bedeckt, jetzt ſind ſie kahle und unangebaute Hoͤhen. Wo aber in den Thaͤlern noch einzelne Baͤume ſtehen geblieben, da ſind ſie auch pracht- volle wahre Berge von Zweigen und Laub. Man kann ſich uͤberhaupt des Gedankens nicht erwehren, was Konſtanti- nopel iſt, und was es ſein koͤnnte, wenn hier eine gute Regierung und ein arbeitſames Volk wohnten.
Viel Vergnuͤgen macht es mir immer, den Bosphorus hinauf zu wandern, bald zu Fuß, bald im Kahn, bald auf der europaͤiſchen, bald auf der aſiatiſchen Seite. Um den Ruͤckweg braucht man ſich nicht zu kuͤmmern; man ſetzt oder legt ſich in eins der zierlichen, leichten Kaiks, die alle Gewaͤſſer hier bedecken. Der Bosphorus, welcher mit gro- ßer Schnelligkeit ſtets nach Konſtantinopel zufließt, fuͤhrt uns, ſelbſt wenn die Ruderer nicht waͤren, in kurzer Zeit wieder heim.
Vor einigen Tagen waren wir wieder die Gaͤſte des Sultans oder vielmehr ſeines Defterdars oder Schatzmei- ſters. Man feierte auf einer großen Wieſe, die ſuͤßen Waſſer genannt, ein Volksfeſt, wegen Beſchneidung der jungen Prinzen, zu welchem man auch das diplomatiſche Corps eingeladen hatte. Da dieſe Feier aͤcht tuͤrkiſch iſt, ſo gab man uns auch ein aͤcht-tuͤrkiſches Diner, natuͤrlich ohne Meſſer und Gabeln und ohne Wein. Den Anfang der zahlloſen Schuͤſſeln machte ein gebratenes Lamm, in- wendig mit Reis und Roſinen gefuͤllt. Jeder riß ſich ein
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len brauchen, wie bei uns, wo ihnen der Winter gleich
uͤber den Hals kommt. Hier iſt man ſicher, von jetzt bis
Weihnachten ſchoͤnes Wetter zu behalten. Die Obſtbaͤume
haben zwei Monate gebluͤht, jetzt ſind wir bei den Jasmi-
nen und den zahlloſen Roſen, die alle Gaͤrten fuͤllen, auch
faͤngt man ſchon an Erdbeeren und Kirſchen auszubieten.
Jm Ganzen muß ich doch geſtehen, daß ich den Fruͤhling
nicht ſo ſchoͤn, wie bei uns finde; es iſt nicht dieſer ſchnelle,
zauberiſche Uebergang, und es fehlt die Hauptzierde, der
Laubwald. Zur Zeit der griechiſchen Kaiſer waren noch
beide Ufer des Bosphorus mit Wald bedeckt, jetzt ſind ſie
kahle und unangebaute Hoͤhen. Wo aber in den Thaͤlern
noch einzelne Baͤume ſtehen geblieben, da ſind ſie auch pracht-
volle wahre Berge von Zweigen und Laub. Man kann ſich
uͤberhaupt des Gedankens nicht erwehren, was Konſtanti-
nopel iſt, und was es ſein koͤnnte, wenn hier eine gute
Regierung und ein arbeitſames Volk wohnten.
Viel Vergnuͤgen macht es mir immer, den Bosphorus
hinauf zu wandern, bald zu Fuß, bald im Kahn, bald auf
der europaͤiſchen, bald auf der aſiatiſchen Seite. Um den
Ruͤckweg braucht man ſich nicht zu kuͤmmern; man ſetzt
oder legt ſich in eins der zierlichen, leichten Kaiks, die alle
Gewaͤſſer hier bedecken. Der Bosphorus, welcher mit gro-
ßer Schnelligkeit ſtets nach Konſtantinopel zufließt, fuͤhrt
uns, ſelbſt wenn die Ruderer nicht waͤren, in kurzer Zeit
wieder heim.
Vor einigen Tagen waren wir wieder die Gaͤſte des
Sultans oder vielmehr ſeines Defterdars oder Schatzmei-
ſters. Man feierte auf einer großen Wieſe, die ſuͤßen
Waſſer genannt, ein Volksfeſt, wegen Beſchneidung der
jungen Prinzen, zu welchem man auch das diplomatiſche
Corps eingeladen hatte. Da dieſe Feier aͤcht tuͤrkiſch iſt,
ſo gab man uns auch ein aͤcht-tuͤrkiſches Diner, natuͤrlich
ohne Meſſer und Gabeln und ohne Wein. Den Anfang
der zahlloſen Schuͤſſeln machte ein gebratenes Lamm, in-
wendig mit Reis und Roſinen gefuͤllt. Jeder riß ſich ein
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Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/71>, abgerufen am 25.11.2024.
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