Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

Behufs der Waschungen abschütteln können muß. -- Doch
genug von einzelnen Beispielen, die trivial scheinen könnten,
wenn sie sich nicht auf sehr positive und ernstliche Hinder-
nisse bezögen, welche den dringend nothwendig gewordenen
Fortschritten entgegen treten.

So ist der Kalife, wenn er der Sultan eines osmani-
schen Reichs sein will, in die unglückliche Lage versetzt, an
den Lehrsätzen des Jslam rütteln zu müssen, aus deren Be-
achtung er seine Machtvollkommenheit schöpft; wie eifer-
süchtig der Großherr eben auf diese seine religiöse Würde
hielt, zeigte er, indem er sich wenige Tage vor seinem Hin-
tritt noch, und fast schon sterbend, nach der Moschee Ba-
jasids tragen ließ, um das Freitags-Gebet abzulesen.

Der Czaar sowohl, wie der Sultan hatten, während
sie mit ihren innern Angelegenheiten vollauf beschäftigt wa-
ren, den Kampf mit dem äußern Feinde zu bestehen, aber
Rußland war siegreich, die Pforte überall geschlagen. Eine
Reihe von Niederlagen schienen dem Volke, welches die
Nothwendigkeit der Neuerungen nicht begreift, und unter
den davon unzertrennlichen Uebeln seufzt, das Gottesurtheil
der Verwerfung.

Seitdem der Großherr mit einem Schlage das Ge-
wicht vernichtet, welches die Türkei bisher in die politische
Waagschale Europa's geworfen, seit der Vernichtung der
Janitscharen, büßte er Länder und Reiche an Feinde und
Unterthanen ein. Hellas, Serbien, Moldau und Wallachei
entzogen sich seiner Macht, Aegypten, Syrien, Candien,
Adana und Arabien fielen einem aufrührerischen Vasallen
zu; Bessarabien und das nordöstliche Kleinasien wurden
von den Russen erobert; Algier durch die Fanzosen be-
setzt; Tunis machte sich unabhängig; Bosnien, Albanien
und Tripolis gehorchten fast nur noch dem Namen nach;
zwei Flotten gingen verloren, die eine im Kampfe, die an-
dere durch Verrath; ein russisches Heer überschritt den
Balkan und erschien unter den Mauern der zweiten Haupt-
stadt des Landes; ja, um das Unglück voll zu machen,

Behufs der Waſchungen abſchuͤtteln koͤnnen muß. — Doch
genug von einzelnen Beiſpielen, die trivial ſcheinen koͤnnten,
wenn ſie ſich nicht auf ſehr poſitive und ernſtliche Hinder-
niſſe bezoͤgen, welche den dringend nothwendig gewordenen
Fortſchritten entgegen treten.

So iſt der Kalife, wenn er der Sultan eines osmani-
ſchen Reichs ſein will, in die ungluͤckliche Lage verſetzt, an
den Lehrſaͤtzen des Jslam ruͤtteln zu muͤſſen, aus deren Be-
achtung er ſeine Machtvollkommenheit ſchoͤpft; wie eifer-
ſuͤchtig der Großherr eben auf dieſe ſeine religioͤſe Wuͤrde
hielt, zeigte er, indem er ſich wenige Tage vor ſeinem Hin-
tritt noch, und faſt ſchon ſterbend, nach der Moſchee Ba-
jaſids tragen ließ, um das Freitags-Gebet abzuleſen.

Der Czaar ſowohl, wie der Sultan hatten, waͤhrend
ſie mit ihren innern Angelegenheiten vollauf beſchaͤftigt wa-
ren, den Kampf mit dem aͤußern Feinde zu beſtehen, aber
Rußland war ſiegreich, die Pforte uͤberall geſchlagen. Eine
Reihe von Niederlagen ſchienen dem Volke, welches die
Nothwendigkeit der Neuerungen nicht begreift, und unter
den davon unzertrennlichen Uebeln ſeufzt, das Gottesurtheil
der Verwerfung.

Seitdem der Großherr mit einem Schlage das Ge-
wicht vernichtet, welches die Tuͤrkei bisher in die politiſche
Waagſchale Europa's geworfen, ſeit der Vernichtung der
Janitſcharen, buͤßte er Laͤnder und Reiche an Feinde und
Unterthanen ein. Hellas, Serbien, Moldau und Wallachei
entzogen ſich ſeiner Macht, Aegypten, Syrien, Candien,
Adana und Arabien fielen einem aufruͤhreriſchen Vaſallen
zu; Beſſarabien und das nordoͤſtliche Kleinaſien wurden
von den Ruſſen erobert; Algier durch die Fanzoſen be-
ſetzt; Tunis machte ſich unabhaͤngig; Bosnien, Albanien
und Tripolis gehorchten faſt nur noch dem Namen nach;
zwei Flotten gingen verloren, die eine im Kampfe, die an-
dere durch Verrath; ein ruſſiſches Heer uͤberſchritt den
Balkan und erſchien unter den Mauern der zweiten Haupt-
ſtadt des Landes; ja, um das Ungluͤck voll zu machen,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0428" n="418"/>
Behufs der Wa&#x017F;chungen ab&#x017F;chu&#x0364;tteln ko&#x0364;nnen muß. &#x2014; Doch<lb/>
genug von einzelnen Bei&#x017F;pielen, die trivial &#x017F;cheinen ko&#x0364;nnten,<lb/>
wenn &#x017F;ie &#x017F;ich nicht auf &#x017F;ehr po&#x017F;itive und ern&#x017F;tliche Hinder-<lb/>
ni&#x017F;&#x017F;e bezo&#x0364;gen, welche den dringend nothwendig gewordenen<lb/>
Fort&#x017F;chritten entgegen treten.</p><lb/>
        <p>So i&#x017F;t der Kalife, wenn er der Sultan eines osmani-<lb/>
&#x017F;chen Reichs &#x017F;ein will, in die unglu&#x0364;ckliche Lage ver&#x017F;etzt, an<lb/>
den Lehr&#x017F;a&#x0364;tzen des Jslam ru&#x0364;tteln zu mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, aus deren Be-<lb/>
achtung er &#x017F;eine Machtvollkommenheit &#x017F;cho&#x0364;pft; wie eifer-<lb/>
&#x017F;u&#x0364;chtig der Großherr eben auf die&#x017F;e &#x017F;eine religio&#x0364;&#x017F;e Wu&#x0364;rde<lb/>
hielt, zeigte er, indem er &#x017F;ich wenige Tage vor &#x017F;einem Hin-<lb/>
tritt noch, und fa&#x017F;t &#x017F;chon &#x017F;terbend, nach der Mo&#x017F;chee Ba-<lb/>
ja&#x017F;ids tragen ließ, um das Freitags-Gebet abzule&#x017F;en.</p><lb/>
        <p>Der Czaar &#x017F;owohl, wie der Sultan hatten, wa&#x0364;hrend<lb/>
&#x017F;ie mit ihren innern Angelegenheiten vollauf be&#x017F;cha&#x0364;ftigt wa-<lb/>
ren, den Kampf mit dem a&#x0364;ußern Feinde zu be&#x017F;tehen, aber<lb/>
Rußland war &#x017F;iegreich, die Pforte u&#x0364;berall ge&#x017F;chlagen. Eine<lb/>
Reihe von Niederlagen &#x017F;chienen dem Volke, welches die<lb/>
Nothwendigkeit der Neuerungen nicht begreift, und unter<lb/>
den davon unzertrennlichen Uebeln &#x017F;eufzt, das Gottesurtheil<lb/>
der Verwerfung.</p><lb/>
        <p>Seitdem der Großherr mit einem Schlage das Ge-<lb/>
wicht vernichtet, welches die Tu&#x0364;rkei bisher in die politi&#x017F;che<lb/>
Waag&#x017F;chale Europa's geworfen, &#x017F;eit der Vernichtung der<lb/>
Janit&#x017F;charen, bu&#x0364;ßte er La&#x0364;nder und Reiche an Feinde und<lb/>
Unterthanen ein. Hellas, Serbien, Moldau und Wallachei<lb/>
entzogen &#x017F;ich &#x017F;einer Macht, Aegypten, Syrien, Candien,<lb/>
Adana und Arabien fielen einem aufru&#x0364;hreri&#x017F;chen Va&#x017F;allen<lb/>
zu; Be&#x017F;&#x017F;arabien und das nordo&#x0364;&#x017F;tliche Kleina&#x017F;ien wurden<lb/>
von den Ru&#x017F;&#x017F;en erobert; Algier durch die Fanzo&#x017F;en be-<lb/>
&#x017F;etzt; Tunis machte &#x017F;ich unabha&#x0364;ngig; Bosnien, Albanien<lb/>
und Tripolis gehorchten fa&#x017F;t nur noch dem Namen nach;<lb/>
zwei Flotten gingen verloren, die eine im Kampfe, die an-<lb/>
dere durch Verrath; ein ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;ches Heer u&#x0364;ber&#x017F;chritt den<lb/>
Balkan und er&#x017F;chien unter den Mauern der zweiten Haupt-<lb/>
&#x017F;tadt des Landes; ja, um das Unglu&#x0364;ck voll zu machen,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[418/0428] Behufs der Waſchungen abſchuͤtteln koͤnnen muß. — Doch genug von einzelnen Beiſpielen, die trivial ſcheinen koͤnnten, wenn ſie ſich nicht auf ſehr poſitive und ernſtliche Hinder- niſſe bezoͤgen, welche den dringend nothwendig gewordenen Fortſchritten entgegen treten. So iſt der Kalife, wenn er der Sultan eines osmani- ſchen Reichs ſein will, in die ungluͤckliche Lage verſetzt, an den Lehrſaͤtzen des Jslam ruͤtteln zu muͤſſen, aus deren Be- achtung er ſeine Machtvollkommenheit ſchoͤpft; wie eifer- ſuͤchtig der Großherr eben auf dieſe ſeine religioͤſe Wuͤrde hielt, zeigte er, indem er ſich wenige Tage vor ſeinem Hin- tritt noch, und faſt ſchon ſterbend, nach der Moſchee Ba- jaſids tragen ließ, um das Freitags-Gebet abzuleſen. Der Czaar ſowohl, wie der Sultan hatten, waͤhrend ſie mit ihren innern Angelegenheiten vollauf beſchaͤftigt wa- ren, den Kampf mit dem aͤußern Feinde zu beſtehen, aber Rußland war ſiegreich, die Pforte uͤberall geſchlagen. Eine Reihe von Niederlagen ſchienen dem Volke, welches die Nothwendigkeit der Neuerungen nicht begreift, und unter den davon unzertrennlichen Uebeln ſeufzt, das Gottesurtheil der Verwerfung. Seitdem der Großherr mit einem Schlage das Ge- wicht vernichtet, welches die Tuͤrkei bisher in die politiſche Waagſchale Europa's geworfen, ſeit der Vernichtung der Janitſcharen, buͤßte er Laͤnder und Reiche an Feinde und Unterthanen ein. Hellas, Serbien, Moldau und Wallachei entzogen ſich ſeiner Macht, Aegypten, Syrien, Candien, Adana und Arabien fielen einem aufruͤhreriſchen Vaſallen zu; Beſſarabien und das nordoͤſtliche Kleinaſien wurden von den Ruſſen erobert; Algier durch die Fanzoſen be- ſetzt; Tunis machte ſich unabhaͤngig; Bosnien, Albanien und Tripolis gehorchten faſt nur noch dem Namen nach; zwei Flotten gingen verloren, die eine im Kampfe, die an- dere durch Verrath; ein ruſſiſches Heer uͤberſchritt den Balkan und erſchien unter den Mauern der zweiten Haupt- ſtadt des Landes; ja, um das Ungluͤck voll zu machen,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/428
Zitationshilfe: Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 418. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/428>, abgerufen am 25.11.2024.