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Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841.

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nicht?" antwortete ein anwesender türkischer Offizier, "wenn
ihre Pässe von der russischen Gesandtschaft visirt sind, im-
merhin." Dieser Offizier war Reschid-Bey, welcher seine
Erziehung in Europa erhalten hat; aber er sagte es auf
französisch, wo er freilich das Kühnste sagen durfte, denn
Niemand verstand ihn. -- Ne sarar var! "Was schadet's,"
meinten die Leute nach der Katastrophe von Nisib, "der Pa-
";dischah ist reich genug, um hin und wieder eine Schlacht
";und ein paar Provinzen zu verlieren!" Die europäischen
Cabinette haben darüber eine andere Ansicht, alle sprechen
den Wunsch aus, das osmanische Reich möglichst gestärkt
und gekräftigt zu sehen, aber jeder versteht unter diesem
Ausspruch etwas Anderes. Frankreich ist der Ansicht, daß
der Orient sehr gesichert werden würde, wenn man die
Türkei und Aegypten gleich stark macht, pour avoir deux
fortes puissances en Orient
. Das läuft ungefähr dar-
auf hinaus, wie wenn man sagt, wenn Du zwei Gewichte
in die politische Waagschale werfen kannst, so theile sie,
lege eins rechts, eins links, wobei denn noch das Bischen
Algerien als incommensurabler Bruchtheil abfällt, sauf l'in-
tegrite de la porte.
England hingegen meint, daß man
vor Allem dem Großherrn zu dem Seinigen verhelfen sollte,
wo denn auch der Statthalter zu Alexandrien sich nicht
beikommen lassen würde, gegen Handelstraktate oder Eisen-
bahnanlagen zu protestiren; es nimmt nicht die geringste
Kenntniß davon, daß die Pforte im Juni ein Heer und
eine Flotte verlor, und bietet dem Sieger als Friedens-
bedingung die Hälfte von dem, was er vor dem Siege be-
sessen. Rußland hat eigentlich gegen einen Schattenfürsten
am Bosphor und einen andern am Nil nichts einzuwen-
den, und von dieser Macht begreift man, daß sie den sta-
tus quo
aufrecht erhalten wissen wollte. Griechenland so-
gar, welches doch daheim noch Manches zu thun hat, träumt
einen schönen Traum von der Wiedergeburt des byzantini-
schen Reichs. Es ist kaum möglich, irgend eine durchgrei-
fende Maaßregel in Anwendung zu bringen, ohne das Jn-

nicht?“ antwortete ein anweſender tuͤrkiſcher Offizier, „wenn
ihre Paͤſſe von der ruſſiſchen Geſandtſchaft viſirt ſind, im-
merhin.“ Dieſer Offizier war Reſchid-Bey, welcher ſeine
Erziehung in Europa erhalten hat; aber er ſagte es auf
franzoͤſiſch, wo er freilich das Kuͤhnſte ſagen durfte, denn
Niemand verſtand ihn. — Ne sarar var! „Was ſchadet's,“
meinten die Leute nach der Kataſtrophe von Niſib, „der Pa-
„;diſchah iſt reich genug, um hin und wieder eine Schlacht
„;und ein paar Provinzen zu verlieren!“ Die europaͤiſchen
Cabinette haben daruͤber eine andere Anſicht, alle ſprechen
den Wunſch aus, das osmaniſche Reich moͤglichſt geſtaͤrkt
und gekraͤftigt zu ſehen, aber jeder verſteht unter dieſem
Ausſpruch etwas Anderes. Frankreich iſt der Anſicht, daß
der Orient ſehr geſichert werden wuͤrde, wenn man die
Tuͤrkei und Aegypten gleich ſtark macht, pour avoir deux
fortes puissances en Orient
. Das laͤuft ungefaͤhr dar-
auf hinaus, wie wenn man ſagt, wenn Du zwei Gewichte
in die politiſche Waagſchale werfen kannſt, ſo theile ſie,
lege eins rechts, eins links, wobei denn noch das Bischen
Algerien als incommenſurabler Bruchtheil abfaͤllt, sauf l'in-
tégrité de la porte.
England hingegen meint, daß man
vor Allem dem Großherrn zu dem Seinigen verhelfen ſollte,
wo denn auch der Statthalter zu Alexandrien ſich nicht
beikommen laſſen wuͤrde, gegen Handelstraktate oder Eiſen-
bahnanlagen zu proteſtiren; es nimmt nicht die geringſte
Kenntniß davon, daß die Pforte im Juni ein Heer und
eine Flotte verlor, und bietet dem Sieger als Friedens-
bedingung die Haͤlfte von dem, was er vor dem Siege be-
ſeſſen. Rußland hat eigentlich gegen einen Schattenfuͤrſten
am Bosphor und einen andern am Nil nichts einzuwen-
den, und von dieſer Macht begreift man, daß ſie den sta-
tus quo
aufrecht erhalten wiſſen wollte. Griechenland ſo-
gar, welches doch daheim noch Manches zu thun hat, traͤumt
einen ſchoͤnen Traum von der Wiedergeburt des byzantini-
ſchen Reichs. Es iſt kaum moͤglich, irgend eine durchgrei-
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[415/0425] nicht?“ antwortete ein anweſender tuͤrkiſcher Offizier, „wenn ihre Paͤſſe von der ruſſiſchen Geſandtſchaft viſirt ſind, im- merhin.“ Dieſer Offizier war Reſchid-Bey, welcher ſeine Erziehung in Europa erhalten hat; aber er ſagte es auf franzoͤſiſch, wo er freilich das Kuͤhnſte ſagen durfte, denn Niemand verſtand ihn. — Ne sarar var! „Was ſchadet's,“ meinten die Leute nach der Kataſtrophe von Niſib, „der Pa- „;diſchah iſt reich genug, um hin und wieder eine Schlacht „;und ein paar Provinzen zu verlieren!“ Die europaͤiſchen Cabinette haben daruͤber eine andere Anſicht, alle ſprechen den Wunſch aus, das osmaniſche Reich moͤglichſt geſtaͤrkt und gekraͤftigt zu ſehen, aber jeder verſteht unter dieſem Ausſpruch etwas Anderes. Frankreich iſt der Anſicht, daß der Orient ſehr geſichert werden wuͤrde, wenn man die Tuͤrkei und Aegypten gleich ſtark macht, pour avoir deux fortes puissances en Orient. Das laͤuft ungefaͤhr dar- auf hinaus, wie wenn man ſagt, wenn Du zwei Gewichte in die politiſche Waagſchale werfen kannſt, ſo theile ſie, lege eins rechts, eins links, wobei denn noch das Bischen Algerien als incommenſurabler Bruchtheil abfaͤllt, sauf l'in- tégrité de la porte. England hingegen meint, daß man vor Allem dem Großherrn zu dem Seinigen verhelfen ſollte, wo denn auch der Statthalter zu Alexandrien ſich nicht beikommen laſſen wuͤrde, gegen Handelstraktate oder Eiſen- bahnanlagen zu proteſtiren; es nimmt nicht die geringſte Kenntniß davon, daß die Pforte im Juni ein Heer und eine Flotte verlor, und bietet dem Sieger als Friedens- bedingung die Haͤlfte von dem, was er vor dem Siege be- ſeſſen. Rußland hat eigentlich gegen einen Schattenfuͤrſten am Bosphor und einen andern am Nil nichts einzuwen- den, und von dieſer Macht begreift man, daß ſie den sta- tus quo aufrecht erhalten wiſſen wollte. Griechenland ſo- gar, welches doch daheim noch Manches zu thun hat, traͤumt einen ſchoͤnen Traum von der Wiedergeburt des byzantini- ſchen Reichs. Es iſt kaum moͤglich, irgend eine durchgrei- fende Maaßregel in Anwendung zu bringen, ohne das Jn-

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Zitationshilfe: Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 415. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/425>, abgerufen am 25.11.2024.