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Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841.

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Horizontal-Durchschnitt des Pfeilers bildet kein Viereck;
die eine Seite ist ganz sanft nach außen gebogen, die ge-
genüberstehende parallel mit ihr nach Jnnen ausgeschweift,
die zwei übrigen Seiten sind grade und parallel. Die Höhe
des Steins beträgt 80 Fuß; er erhebt sich auf einem vier-
eckigen Marmorsockel, dessen Reliefs die Kämpfe der Renn-
bahn darstellen, und ruht mit seinen vier untern Ecken auf
vier Würfeln von Metall, etwa 1 Fuß ins Gevierte.

Was hat doch dieser Aegypter nicht Alles erlebt! Er
sah das Reich der Pharaonen und dessen Sturz, sah die
Blüthe Roms und seinen Verfall, die Gründung der neuen
Weltstadt, den Sieg eines neuen Glaubens und seinen Un-
tergang, die Herrschaft des Jslam und seine Schwäche.
Auf dem Hippodrom von Byzanz sah er die Partheikämpfe
des Circus von Rom erneuert und mit solcher Wuth fort-
gesetzt, daß sie die schwache Regierung in ihren Grund-
festen erschütterten. Es gab bekanntlich vier Partheien der
Rennbahn, welche sich durch besondere Farben unterschie-
den: die rothe und grüne oder die Landparthei hielten
zusammen gegen die blaue und weiße oder die Seepar-
thei, und es ist merkwürdig genug, daß noch heute unab-
hängig von jenen längst vergessenen Spielen die türkischen
Farben grün und roth, die neu-hellenischen blau und weiß
sind. Justinian begünstigte die Blauen; und als die Grü-
nen sich im Circus beschwerten, entstand zwischen Kaiser
und Volk durch die Stimme eines Ausrufers das selt-
samste Zwiegespräch: "Wir sind arm, wir sind unschuldig,
wir werden angegriffen. Laß uns sterben, o Kaiser, aber
auf dein Geheiß, in deinem Dienst!" -- "Seid geduldig
und aufmerksam! Verstummt ihr Juden, ihr Samarita-
ner und Manichäer!" Auf diese Entgegnung nannte die
erbitterte Menge den Kaiser einen Mörder und Esel, man
griff zu den Waffen, und Justinian sah sich in seinem Pal-
last belagert. Die Menge wählte einen Gegenkaiser, ein
bedeutender Theil von Konstantinopel wurde in Asche ge-
legt, viele tausend Menschen kamen ums Leben, und der

Horizontal-Durchſchnitt des Pfeilers bildet kein Viereck;
die eine Seite iſt ganz ſanft nach außen gebogen, die ge-
genuͤberſtehende parallel mit ihr nach Jnnen ausgeſchweift,
die zwei uͤbrigen Seiten ſind grade und parallel. Die Hoͤhe
des Steins betraͤgt 80 Fuß; er erhebt ſich auf einem vier-
eckigen Marmorſockel, deſſen Reliefs die Kaͤmpfe der Renn-
bahn darſtellen, und ruht mit ſeinen vier untern Ecken auf
vier Wuͤrfeln von Metall, etwa 1 Fuß ins Gevierte.

Was hat doch dieſer Aegypter nicht Alles erlebt! Er
ſah das Reich der Pharaonen und deſſen Sturz, ſah die
Bluͤthe Roms und ſeinen Verfall, die Gruͤndung der neuen
Weltſtadt, den Sieg eines neuen Glaubens und ſeinen Un-
tergang, die Herrſchaft des Jslam und ſeine Schwaͤche.
Auf dem Hippodrom von Byzanz ſah er die Partheikaͤmpfe
des Circus von Rom erneuert und mit ſolcher Wuth fort-
geſetzt, daß ſie die ſchwache Regierung in ihren Grund-
feſten erſchuͤtterten. Es gab bekanntlich vier Partheien der
Rennbahn, welche ſich durch beſondere Farben unterſchie-
den: die rothe und gruͤne oder die Landparthei hielten
zuſammen gegen die blaue und weiße oder die Seepar-
thei, und es iſt merkwuͤrdig genug, daß noch heute unab-
haͤngig von jenen laͤngſt vergeſſenen Spielen die tuͤrkiſchen
Farben gruͤn und roth, die neu-helleniſchen blau und weiß
ſind. Juſtinian beguͤnſtigte die Blauen; und als die Gruͤ-
nen ſich im Circus beſchwerten, entſtand zwiſchen Kaiſer
und Volk durch die Stimme eines Ausrufers das ſelt-
ſamſte Zwiegeſpraͤch: „Wir ſind arm, wir ſind unſchuldig,
wir werden angegriffen. Laß uns ſterben, o Kaiſer, aber
auf dein Geheiß, in deinem Dienſt!“ — „Seid geduldig
und aufmerkſam! Verſtummt ihr Juden, ihr Samarita-
ner und Manichaͤer!“ Auf dieſe Entgegnung nannte die
erbitterte Menge den Kaiſer einen Moͤrder und Eſel, man
griff zu den Waffen, und Juſtinian ſah ſich in ſeinem Pal-
laſt belagert. Die Menge waͤhlte einen Gegenkaiſer, ein
bedeutender Theil von Konſtantinopel wurde in Aſche ge-
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[179/0189] Horizontal-Durchſchnitt des Pfeilers bildet kein Viereck; die eine Seite iſt ganz ſanft nach außen gebogen, die ge- genuͤberſtehende parallel mit ihr nach Jnnen ausgeſchweift, die zwei uͤbrigen Seiten ſind grade und parallel. Die Hoͤhe des Steins betraͤgt 80 Fuß; er erhebt ſich auf einem vier- eckigen Marmorſockel, deſſen Reliefs die Kaͤmpfe der Renn- bahn darſtellen, und ruht mit ſeinen vier untern Ecken auf vier Wuͤrfeln von Metall, etwa 1 Fuß ins Gevierte. Was hat doch dieſer Aegypter nicht Alles erlebt! Er ſah das Reich der Pharaonen und deſſen Sturz, ſah die Bluͤthe Roms und ſeinen Verfall, die Gruͤndung der neuen Weltſtadt, den Sieg eines neuen Glaubens und ſeinen Un- tergang, die Herrſchaft des Jslam und ſeine Schwaͤche. Auf dem Hippodrom von Byzanz ſah er die Partheikaͤmpfe des Circus von Rom erneuert und mit ſolcher Wuth fort- geſetzt, daß ſie die ſchwache Regierung in ihren Grund- feſten erſchuͤtterten. Es gab bekanntlich vier Partheien der Rennbahn, welche ſich durch beſondere Farben unterſchie- den: die rothe und gruͤne oder die Landparthei hielten zuſammen gegen die blaue und weiße oder die Seepar- thei, und es iſt merkwuͤrdig genug, daß noch heute unab- haͤngig von jenen laͤngſt vergeſſenen Spielen die tuͤrkiſchen Farben gruͤn und roth, die neu-helleniſchen blau und weiß ſind. Juſtinian beguͤnſtigte die Blauen; und als die Gruͤ- nen ſich im Circus beſchwerten, entſtand zwiſchen Kaiſer und Volk durch die Stimme eines Ausrufers das ſelt- ſamſte Zwiegeſpraͤch: „Wir ſind arm, wir ſind unſchuldig, wir werden angegriffen. Laß uns ſterben, o Kaiſer, aber auf dein Geheiß, in deinem Dienſt!“ — „Seid geduldig und aufmerkſam! Verſtummt ihr Juden, ihr Samarita- ner und Manichaͤer!“ Auf dieſe Entgegnung nannte die erbitterte Menge den Kaiſer einen Moͤrder und Eſel, man griff zu den Waffen, und Juſtinian ſah ſich in ſeinem Pal- laſt belagert. Die Menge waͤhlte einen Gegenkaiſer, ein bedeutender Theil von Konſtantinopel wurde in Aſche ge- legt, viele tauſend Menſchen kamen ums Leben, und der

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Zitationshilfe: Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/189>, abgerufen am 28.11.2024.