Die europäische Quarantaine scheidet Länder, in wel- chen die Pest nicht existirt, außer wenn sie eingeschleppt wird, von Ländern, wo sie nie aufhört oder wo sie sich er- zeugt. Eine mehr als hundertjährige Erfahrung zeigt, daß Europa, indem es bis zu einem gewissen Grade den Ver- kehr mit dem Orient beschränkt, von der Plage frei bleibt; in der Türkei zeigt sie sich an tausend verschiedenen Orten. Die Witterung, große Kälte und große Hitze, selbst der abnehmende Mond und wahrscheinlich Ursachen, die gar noch nicht ermittelt sind, ersticken zuweilen die Flamme, aber sie glimmt unter der Asche fort und lodert stets wie- der auf, sei es in Trapezunt oder Kairo, in Adrianopel oder Alexandrien, in Salonichi, Brussa, Rustschuk, Smyrna oder Konstantinopel, denn eben die großen Städte sind der wahre Herd des Uebels.
Nehmen wir nun einen Augenblick an, daß man Konstan- tinopel mit Quarantainen in den Dardanellen und am Bos- phor, zu Kutschuk-Tschekmedsche und Nicomedien, zu Was- ser und zu Lande umstellt habe, setzen wir voraus, daß der Dienst streng gehandhabt werde, die Beamten unbestechlich seien, und geben wir zu, daß die Hauptstadt vollkommen gegen Egypten und das Schwarze Meer, gegen Rumelien und Anadoli gesichert sei -- wie wird man nach alle dem Konstantinopel gegen die Pest schützen, welche sich in ihrem eigenen Jnnern erzeugt; wie soll das Fanal gegen die Pest von Ejub, Tophane gegen das Arsenal, Pera gegen Scu- tari bewahrt werden? Und wenn nun die Pest in Konstan- tinopel herrscht, während Brussa und Adrianopel frei sind, müßte man dann nicht die Quarantainen umdrehen und die Blokade der Hauptstadt aussprechen?
Wenn von zwei Männern der Eine mit einer anstecken- den Krankheit behaftet ist, so kann der Andere sagen: um meiner Sicherheit willen breche ich den Umgang mit dir ab. Kann aber der Kranke sagen: ich will, daß mein Haupt künftig keinen Verkehr mit meinen Gliedern habe? Eben
Die europaͤiſche Quarantaine ſcheidet Laͤnder, in wel- chen die Peſt nicht exiſtirt, außer wenn ſie eingeſchleppt wird, von Laͤndern, wo ſie nie aufhoͤrt oder wo ſie ſich er- zeugt. Eine mehr als hundertjaͤhrige Erfahrung zeigt, daß Europa, indem es bis zu einem gewiſſen Grade den Ver- kehr mit dem Orient beſchraͤnkt, von der Plage frei bleibt; in der Tuͤrkei zeigt ſie ſich an tauſend verſchiedenen Orten. Die Witterung, große Kaͤlte und große Hitze, ſelbſt der abnehmende Mond und wahrſcheinlich Urſachen, die gar noch nicht ermittelt ſind, erſticken zuweilen die Flamme, aber ſie glimmt unter der Aſche fort und lodert ſtets wie- der auf, ſei es in Trapezunt oder Kairo, in Adrianopel oder Alexandrien, in Salonichi, Bruſſa, Ruſtſchuk, Smyrna oder Konſtantinopel, denn eben die großen Staͤdte ſind der wahre Herd des Uebels.
Nehmen wir nun einen Augenblick an, daß man Konſtan- tinopel mit Quarantainen in den Dardanellen und am Bos- phor, zu Kutſchuk-Tſchekmedſche und Nicomedien, zu Waſ- ſer und zu Lande umſtellt habe, ſetzen wir voraus, daß der Dienſt ſtreng gehandhabt werde, die Beamten unbeſtechlich ſeien, und geben wir zu, daß die Hauptſtadt vollkommen gegen Egypten und das Schwarze Meer, gegen Rumelien und Anadoli geſichert ſei — wie wird man nach alle dem Konſtantinopel gegen die Peſt ſchuͤtzen, welche ſich in ihrem eigenen Jnnern erzeugt; wie ſoll das Fanal gegen die Peſt von Ejub, Tophane gegen das Arſenal, Pera gegen Scu- tari bewahrt werden? Und wenn nun die Peſt in Konſtan- tinopel herrſcht, waͤhrend Bruſſa und Adrianopel frei ſind, muͤßte man dann nicht die Quarantainen umdrehen und die Blokade der Hauptſtadt ausſprechen?
Wenn von zwei Maͤnnern der Eine mit einer anſtecken- den Krankheit behaftet iſt, ſo kann der Andere ſagen: um meiner Sicherheit willen breche ich den Umgang mit dir ab. Kann aber der Kranke ſagen: ich will, daß mein Haupt kuͤnftig keinen Verkehr mit meinen Gliedern habe? Eben
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Die europaͤiſche Quarantaine ſcheidet Laͤnder, in wel-
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zeugt. Eine mehr als hundertjaͤhrige Erfahrung zeigt, daß
Europa, indem es bis zu einem gewiſſen Grade den Ver-
kehr mit dem Orient beſchraͤnkt, von der Plage frei bleibt;
in der Tuͤrkei zeigt ſie ſich an tauſend verſchiedenen Orten.
Die Witterung, große Kaͤlte und große Hitze, ſelbſt der
abnehmende Mond und wahrſcheinlich Urſachen, die gar
noch nicht ermittelt ſind, erſticken zuweilen die Flamme,
aber ſie glimmt unter der Aſche fort und lodert ſtets wie-
der auf, ſei es in Trapezunt oder Kairo, in Adrianopel
oder Alexandrien, in Salonichi, Bruſſa, Ruſtſchuk, Smyrna
oder Konſtantinopel, denn eben die großen Staͤdte ſind der
wahre Herd des Uebels.
Nehmen wir nun einen Augenblick an, daß man Konſtan-
tinopel mit Quarantainen in den Dardanellen und am Bos-
phor, zu Kutſchuk-Tſchekmedſche und Nicomedien, zu Waſ-
ſer und zu Lande umſtellt habe, ſetzen wir voraus, daß der
Dienſt ſtreng gehandhabt werde, die Beamten unbeſtechlich
ſeien, und geben wir zu, daß die Hauptſtadt vollkommen
gegen Egypten und das Schwarze Meer, gegen Rumelien
und Anadoli geſichert ſei — wie wird man nach alle dem
Konſtantinopel gegen die Peſt ſchuͤtzen, welche ſich in ihrem
eigenen Jnnern erzeugt; wie ſoll das Fanal gegen die Peſt
von Ejub, Tophane gegen das Arſenal, Pera gegen Scu-
tari bewahrt werden? Und wenn nun die Peſt in Konſtan-
tinopel herrſcht, waͤhrend Bruſſa und Adrianopel frei ſind,
muͤßte man dann nicht die Quarantainen umdrehen und
die Blokade der Hauptſtadt ausſprechen?
Wenn von zwei Maͤnnern der Eine mit einer anſtecken-
den Krankheit behaftet iſt, ſo kann der Andere ſagen: um
meiner Sicherheit willen breche ich den Umgang mit dir ab.
Kann aber der Kranke ſagen: ich will, daß mein Haupt
kuͤnftig keinen Verkehr mit meinen Gliedern habe? Eben
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Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/130>, abgerufen am 24.11.2024.
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