Kinder. Das sind die Familien, denen die Pest den Haus- vater, die Mutter oder den Ernährer entrissen, und die hier Quarantaine machen, während ihre Habe gereinigt wird. Die Griechen unterlassen oft die Reinigung ganz, und hoffen, wenn sie nur vierzig Tage lang sich allem Elend und der rauhen Jahreszeit im Zelte ausgesetzt ha- ben, daß die Panajeia oder schützende Mutter Gottes sich ihrer wohl erbarmen werde. Sie kehren zurück in ihr Haus und neue Erkrankungen erfolgen fast unausbleiblich. Jn den Gassen selbst schleichen die Franken in schwarzen Wachs- tafft-Mänteln schauerlichen Anblicks umher; ängstlich sucht einer dem andern auszuweichen, was aber in den schmalen Straßen gar nicht möglich ist. Plötzlich biegt ein Leichen- zug um die Ecke; Freunde und Verwandte haben den Ver- storbenen verlassen, wenn es ein Franke war, und nur der Priester mit einem langen schwarzen Stab schreitet voran, um die Begegnenden zu warnen. Jst es aber ein Mos- lem, so drängen sich selbst Unbekannte heran, ihn eine Strecke zu tragen; denn so viele Schritte der Rechtgläubige den Hin- geschiedenen begleitet, so viel Schritte näher ist er dem Pa- radiese. Begegnet man einem Bekannten, so ist das große Thema: "Wie sind die Nachrichten von der Pest, wie viele Erkrankungen haben in der letzten Woche statt gefunden?" Jm Jnnern der Familien herrscht überall Bestürzung, und am schlimmsten sind die armen Frauen daran, die gerade am wenigsten exponirt sind, wie denn so oft die Besorgniß in dem Grade zunimmt, als man weniger zu fürchten hat. Nun kann man sich absolut nie absperren, und wenn man den Gedanken ausspinnt, so findet man die Möglichkeit einer Ansteckung überall und immer. Alle Häuser sind verschlos- sen wie Festungen, und ein Besuch, den man macht, ver- setzt die ganze Familie in Angst. Man sperrt Dich zuerst in einen Räucherkasten ein, dann trittst Du in einen Saal ohne Sopha, ohne Teppich oder Gardinen, nur mit Rohr- stühlen, hölzernen Tischen mit wachsleinenen Ueberzügen, Stoffe, welche man für nicht pestfangend hält. Du hast
Kinder. Das ſind die Familien, denen die Peſt den Haus- vater, die Mutter oder den Ernaͤhrer entriſſen, und die hier Quarantaine machen, waͤhrend ihre Habe gereinigt wird. Die Griechen unterlaſſen oft die Reinigung ganz, und hoffen, wenn ſie nur vierzig Tage lang ſich allem Elend und der rauhen Jahreszeit im Zelte ausgeſetzt ha- ben, daß die Panajeia oder ſchuͤtzende Mutter Gottes ſich ihrer wohl erbarmen werde. Sie kehren zuruͤck in ihr Haus und neue Erkrankungen erfolgen faſt unausbleiblich. Jn den Gaſſen ſelbſt ſchleichen die Franken in ſchwarzen Wachs- tafft-Maͤnteln ſchauerlichen Anblicks umher; aͤngſtlich ſucht einer dem andern auszuweichen, was aber in den ſchmalen Straßen gar nicht moͤglich iſt. Ploͤtzlich biegt ein Leichen- zug um die Ecke; Freunde und Verwandte haben den Ver- ſtorbenen verlaſſen, wenn es ein Franke war, und nur der Prieſter mit einem langen ſchwarzen Stab ſchreitet voran, um die Begegnenden zu warnen. Jſt es aber ein Mos- lem, ſo draͤngen ſich ſelbſt Unbekannte heran, ihn eine Strecke zu tragen; denn ſo viele Schritte der Rechtglaͤubige den Hin- geſchiedenen begleitet, ſo viel Schritte naͤher iſt er dem Pa- radieſe. Begegnet man einem Bekannten, ſo iſt das große Thema: „Wie ſind die Nachrichten von der Peſt, wie viele Erkrankungen haben in der letzten Woche ſtatt gefunden?“ Jm Jnnern der Familien herrſcht uͤberall Beſtuͤrzung, und am ſchlimmſten ſind die armen Frauen daran, die gerade am wenigſten exponirt ſind, wie denn ſo oft die Beſorgniß in dem Grade zunimmt, als man weniger zu fuͤrchten hat. Nun kann man ſich abſolut nie abſperren, und wenn man den Gedanken ausſpinnt, ſo findet man die Moͤglichkeit einer Anſteckung uͤberall und immer. Alle Haͤuſer ſind verſchloſ- ſen wie Feſtungen, und ein Beſuch, den man macht, ver- ſetzt die ganze Familie in Angſt. Man ſperrt Dich zuerſt in einen Raͤucherkaſten ein, dann trittſt Du in einen Saal ohne Sopha, ohne Teppich oder Gardinen, nur mit Rohr- ſtuͤhlen, hoͤlzernen Tiſchen mit wachsleinenen Ueberzuͤgen, Stoffe, welche man fuͤr nicht peſtfangend haͤlt. Du haſt
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Kinder. Das ſind die Familien, denen die Peſt den Haus-
vater, die Mutter oder den Ernaͤhrer entriſſen, und die
hier Quarantaine machen, waͤhrend ihre Habe gereinigt
wird. Die Griechen unterlaſſen oft die Reinigung ganz,
und hoffen, wenn ſie nur vierzig Tage lang ſich allem
Elend und der rauhen Jahreszeit im Zelte ausgeſetzt ha-
ben, daß die Panajeia oder ſchuͤtzende Mutter Gottes ſich
ihrer wohl erbarmen werde. Sie kehren zuruͤck in ihr Haus
und neue Erkrankungen erfolgen faſt unausbleiblich. Jn
den Gaſſen ſelbſt ſchleichen die Franken in ſchwarzen Wachs-
tafft-Maͤnteln ſchauerlichen Anblicks umher; aͤngſtlich ſucht
einer dem andern auszuweichen, was aber in den ſchmalen
Straßen gar nicht moͤglich iſt. Ploͤtzlich biegt ein Leichen-
zug um die Ecke; Freunde und Verwandte haben den Ver-
ſtorbenen verlaſſen, wenn es ein Franke war, und nur der
Prieſter mit einem langen ſchwarzen Stab ſchreitet voran,
um die Begegnenden zu warnen. Jſt es aber ein Mos-
lem, ſo draͤngen ſich ſelbſt Unbekannte heran, ihn eine Strecke
zu tragen; denn ſo viele Schritte der Rechtglaͤubige den Hin-
geſchiedenen begleitet, ſo viel Schritte naͤher iſt er dem Pa-
radieſe. Begegnet man einem Bekannten, ſo iſt das große
Thema: „Wie ſind die Nachrichten von der Peſt, wie viele
Erkrankungen haben in der letzten Woche ſtatt gefunden?“
Jm Jnnern der Familien herrſcht uͤberall Beſtuͤrzung, und
am ſchlimmſten ſind die armen Frauen daran, die gerade
am wenigſten exponirt ſind, wie denn ſo oft die Beſorgniß
in dem Grade zunimmt, als man weniger zu fuͤrchten hat.
Nun kann man ſich abſolut nie abſperren, und wenn man
den Gedanken ausſpinnt, ſo findet man die Moͤglichkeit einer
Anſteckung uͤberall und immer. Alle Haͤuſer ſind verſchloſ-
ſen wie Feſtungen, und ein Beſuch, den man macht, ver-
ſetzt die ganze Familie in Angſt. Man ſperrt Dich zuerſt
in einen Raͤucherkaſten ein, dann trittſt Du in einen Saal
ohne Sopha, ohne Teppich oder Gardinen, nur mit Rohr-
ſtuͤhlen, hoͤlzernen Tiſchen mit wachsleinenen Ueberzuͤgen,
Stoffe, welche man fuͤr nicht peſtfangend haͤlt. Du haſt
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Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/128>, abgerufen am 21.11.2024.
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