Aber Du hast von den türkischen Begräbnißplätzen hö- ren wollen, deren Schönheit man mit Recht gerühmt hat. Jn der Gegend von Konstantinopel krönen sie die Vorge- birge am Bosphorus, von welchen man die reichste Aus- sicht genießt; und wenn es wahr ist, daß abgeschiedene Gei- ster zuweilen um ihre Gräber irren, so mögen sie hier im Mondschein die Berge Asiens und Europa's, den Spiegel des Bosphorus und des Propontis, und die riesenhafte Stadt mit einer halben Million Menschen erblicken, die in weniger als hundert Jahren auch alle unter diesen Cypres- sen schlummern werden.
Die regungslose Cypresse mit ihrem an Schwarz gren- zenden Grün ist sehr passend zum Baum der Todten ge- wählt; der Stamm, die Zweige und das Laub streben nach oben, nur die schlanke Spitze ist zur Erde gebeugt, der Wind dringt durch ihre Aeste, aber er bewegt sie nicht. Einzeln genommen ist die Cypresse eine schwerfällige dichte Laubpyramide; sie sieht aus, als ob der Steinmetz sie mit den Grabsteinen zugleich gemeißelt hätte, aber in der Land- schaft macht sie einen schönen Eindruck; hier bedeckt sie oft weite Flächen, und auf dem Kirchhofe von Scutari bil- det sie einen Wald, der drei Viertelmeilen in Umfang hat. Die Türken fühlen, daß sie in Europa nicht zu Hause sind, ihre Prophezeihungen und Ahnungen sagen ihnen, daß das römische Reich ihnen nicht immer gehören werde, und wer die Mittel dazu hat, läßt seine Asche auf die asiatische Seite des Bosphorus nach Scutari bringen. Das Ant- litz der Rechtgläubigen ist nach der heiligen Stadt Mekka gewendet, und zu seinem Haupte erhebt sich ein Marmor- pfeiler von zierlicher Form mit Versen aus dem Koran und den Namen des Hingeschiedenen, oft reich vergoldet und vom Turban überragt.
Der Turban war bisher das Abzeichen eines Recht- gläubigen, welches den Pascha, den Arzt, den Ulema, den Kaufmann, kurz alle Klassen der Gesellschaft unterschied. Bei der Vernichtung der Janitscharen begnügte man sich
Aber Du haſt von den tuͤrkiſchen Begraͤbnißplaͤtzen hoͤ- ren wollen, deren Schoͤnheit man mit Recht geruͤhmt hat. Jn der Gegend von Konſtantinopel kroͤnen ſie die Vorge- birge am Bosphorus, von welchen man die reichſte Aus- ſicht genießt; und wenn es wahr iſt, daß abgeſchiedene Gei- ſter zuweilen um ihre Graͤber irren, ſo moͤgen ſie hier im Mondſchein die Berge Aſiens und Europa's, den Spiegel des Bosphorus und des Propontis, und die rieſenhafte Stadt mit einer halben Million Menſchen erblicken, die in weniger als hundert Jahren auch alle unter dieſen Cypreſ- ſen ſchlummern werden.
Die regungsloſe Cypreſſe mit ihrem an Schwarz gren- zenden Gruͤn iſt ſehr paſſend zum Baum der Todten ge- waͤhlt; der Stamm, die Zweige und das Laub ſtreben nach oben, nur die ſchlanke Spitze iſt zur Erde gebeugt, der Wind dringt durch ihre Aeſte, aber er bewegt ſie nicht. Einzeln genommen iſt die Cypreſſe eine ſchwerfaͤllige dichte Laubpyramide; ſie ſieht aus, als ob der Steinmetz ſie mit den Grabſteinen zugleich gemeißelt haͤtte, aber in der Land- ſchaft macht ſie einen ſchoͤnen Eindruck; hier bedeckt ſie oft weite Flaͤchen, und auf dem Kirchhofe von Scutari bil- det ſie einen Wald, der drei Viertelmeilen in Umfang hat. Die Tuͤrken fuͤhlen, daß ſie in Europa nicht zu Hauſe ſind, ihre Prophezeihungen und Ahnungen ſagen ihnen, daß das roͤmiſche Reich ihnen nicht immer gehoͤren werde, und wer die Mittel dazu hat, laͤßt ſeine Aſche auf die aſiatiſche Seite des Bosphorus nach Scutari bringen. Das Ant- litz der Rechtglaͤubigen iſt nach der heiligen Stadt Mekka gewendet, und zu ſeinem Haupte erhebt ſich ein Marmor- pfeiler von zierlicher Form mit Verſen aus dem Koran und den Namen des Hingeſchiedenen, oft reich vergoldet und vom Turban uͤberragt.
Der Turban war bisher das Abzeichen eines Recht- glaͤubigen, welches den Paſcha, den Arzt, den Ulema, den Kaufmann, kurz alle Klaſſen der Geſellſchaft unterſchied. Bei der Vernichtung der Janitſcharen begnuͤgte man ſich
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Aber Du haſt von den tuͤrkiſchen Begraͤbnißplaͤtzen hoͤ-
ren wollen, deren Schoͤnheit man mit Recht geruͤhmt hat.
Jn der Gegend von Konſtantinopel kroͤnen ſie die Vorge-
birge am Bosphorus, von welchen man die reichſte Aus-
ſicht genießt; und wenn es wahr iſt, daß abgeſchiedene Gei-
ſter zuweilen um ihre Graͤber irren, ſo moͤgen ſie hier im
Mondſchein die Berge Aſiens und Europa's, den Spiegel
des Bosphorus und des Propontis, und die rieſenhafte
Stadt mit einer halben Million Menſchen erblicken, die in
weniger als hundert Jahren auch alle unter dieſen Cypreſ-
ſen ſchlummern werden.
Die regungsloſe Cypreſſe mit ihrem an Schwarz gren-
zenden Gruͤn iſt ſehr paſſend zum Baum der Todten ge-
waͤhlt; der Stamm, die Zweige und das Laub ſtreben nach
oben, nur die ſchlanke Spitze iſt zur Erde gebeugt, der
Wind dringt durch ihre Aeſte, aber er bewegt ſie nicht.
Einzeln genommen iſt die Cypreſſe eine ſchwerfaͤllige dichte
Laubpyramide; ſie ſieht aus, als ob der Steinmetz ſie mit
den Grabſteinen zugleich gemeißelt haͤtte, aber in der Land-
ſchaft macht ſie einen ſchoͤnen Eindruck; hier bedeckt ſie
oft weite Flaͤchen, und auf dem Kirchhofe von Scutari bil-
det ſie einen Wald, der drei Viertelmeilen in Umfang hat.
Die Tuͤrken fuͤhlen, daß ſie in Europa nicht zu Hauſe ſind,
ihre Prophezeihungen und Ahnungen ſagen ihnen, daß das
roͤmiſche Reich ihnen nicht immer gehoͤren werde, und wer
die Mittel dazu hat, laͤßt ſeine Aſche auf die aſiatiſche
Seite des Bosphorus nach Scutari bringen. Das Ant-
litz der Rechtglaͤubigen iſt nach der heiligen Stadt Mekka
gewendet, und zu ſeinem Haupte erhebt ſich ein Marmor-
pfeiler von zierlicher Form mit Verſen aus dem Koran und
den Namen des Hingeſchiedenen, oft reich vergoldet und
vom Turban uͤberragt.
Der Turban war bisher das Abzeichen eines Recht-
glaͤubigen, welches den Paſcha, den Arzt, den Ulema, den
Kaufmann, kurz alle Klaſſen der Geſellſchaft unterſchied.
Bei der Vernichtung der Janitſcharen begnuͤgte man ſich
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Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/115>, abgerufen am 24.11.2024.
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