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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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Mittel zu einer solchen allumfassenden Ersetzung der Selbst-
bestimmung der Einzelnen erwerben.

1) Es wird kaum einer ernsthaften Vertheidigung bedürfen, daß bei
der Begriffsbestimmung des Staates ein bestimmter und ein allgemei-
ner Zweck desselben stillschweigend vorausgesetzt ist. Zwar wird das erstere
theils bei einer naturphilosophischen Auffassung des Staates, so z. B.
von A. Müller, Elemente der Staatskunst, Bd. I, S. 27 fg. ausdrücklich
geläugnet, theils wenigstens von Schleiermacher, System der Sittenlehre,
S. 274 fg. übergangen; das andere aber von K. L. v. Haller, in seiner
Restauration der Staatswissenschaften, in Abrede gestellt: allein der Irrthum
liegt in allen diesen Fällen zu Tage. -- Daß die naturphilosophische Schule
den Staat als ein organisches Gebilde nicht im Sinne einer vielseitigen
und reichen Einrichtung mit einem gemeinschaftlichen Mittelpunkte und
Zwecke, sondern als ein naturwüchsiges Erzeugniß der Weltordnung mit
einer den lebendigen Wesen ähnlichen Natur betrachtet, ist oben § 6,
Anm. 3, bereits erwähnt, diese Ansicht aber auch widerlegt; und in der
That zeigt sich die bloße Spielerei einer solchen Anschauung am deutlichsten
hier, wo sie, an sich folgerichtig, keinen eigenen Zweck für den Staat anerkennt,
und somit jedes Haltes zur Feststellung eigener Regeln seines Handelns
und zur Beurtheilung seiner Leistungen entbehrt. Wenn also namentlich
Müller behauptet, der Staat sei sowenig für den einzelnen Menschen, als
dieser für den Staat da, sondern es seien vielmehr beide in ungetheilter
Gemeinschaft der Ausdruck eines göttlichen Gedankens, sowie die Schnecke
nicht für die Schale und diese nicht für jene bestimmt sei, sondern beide
zusammen die Form eines Lebens bilden: so ist allerdings bei physischen
Naturerzeugnissen, welche zusammen ein Ganzes bilden, das Verhältniß von
Mittel und Zweck nicht vorhanden, und es stehen alle Theile auf gleicher
Linie; allein ganz anders doch da, wo Menschen und eine Einrichtung
für dieselben in Frage stehen. Hier ist es geradezu abgeschmackt und un-
würdig, von einer gleichen Bedeutung beider zu reden; und eine unabweis-
bare Forderung der Vernunft ist es, daß eine jede Einrichtung auch einen
Zweck habe, also einen Zweck für Menschen, wenn sie durch menschliche
Kräfte gebildet und gehandhabt wird. -- Wenn aber Schleiermacher, a. a. O.,
den Begriff des Staats lediglich in dem, gleichviel wie hervortretenden, Gegen-
satze von Obrigkeit und Unterthanen findet, ohne diesem Verhältnisse irgend
eine Bestimmung zu geben: so mag damit, wie übrigens auch die Absicht
ist, zwar der Unterschied zwischen der naturwüchsigen Horde (dem Stamme)
und einem bewußt geordneten Gemeinwesen bezeichnet sein, allein es ist doch
nur die äußere Form dieser weiteren Entwicklungsstufe der menschlichen Ver-
bindungen angegeben. Die Obrigkeit muß nun aber nothwendig ihr Recht

Mittel zu einer ſolchen allumfaſſenden Erſetzung der Selbſt-
beſtimmung der Einzelnen erwerben.

1) Es wird kaum einer ernſthaften Vertheidigung bedürfen, daß bei
der Begriffsbeſtimmung des Staates ein beſtimmter und ein allgemei-
ner Zweck deſſelben ſtillſchweigend vorausgeſetzt iſt. Zwar wird das erſtere
theils bei einer naturphiloſophiſchen Auffaſſung des Staates, ſo z. B.
von A. Müller, Elemente der Staatskunſt, Bd. I, S. 27 fg. ausdrücklich
geläugnet, theils wenigſtens von Schleiermacher, Syſtem der Sittenlehre,
S. 274 fg. übergangen; das andere aber von K. L. v. Haller, in ſeiner
Reſtauration der Staatswiſſenſchaften, in Abrede geſtellt: allein der Irrthum
liegt in allen dieſen Fällen zu Tage. — Daß die naturphiloſophiſche Schule
den Staat als ein organiſches Gebilde nicht im Sinne einer vielſeitigen
und reichen Einrichtung mit einem gemeinſchaftlichen Mittelpunkte und
Zwecke, ſondern als ein naturwüchſiges Erzeugniß der Weltordnung mit
einer den lebendigen Weſen ähnlichen Natur betrachtet, iſt oben § 6,
Anm. 3, bereits erwähnt, dieſe Anſicht aber auch widerlegt; und in der
That zeigt ſich die bloße Spielerei einer ſolchen Anſchauung am deutlichſten
hier, wo ſie, an ſich folgerichtig, keinen eigenen Zweck für den Staat anerkennt,
und ſomit jedes Haltes zur Feſtſtellung eigener Regeln ſeines Handelns
und zur Beurtheilung ſeiner Leiſtungen entbehrt. Wenn alſo namentlich
Müller behauptet, der Staat ſei ſowenig für den einzelnen Menſchen, als
dieſer für den Staat da, ſondern es ſeien vielmehr beide in ungetheilter
Gemeinſchaft der Ausdruck eines göttlichen Gedankens, ſowie die Schnecke
nicht für die Schale und dieſe nicht für jene beſtimmt ſei, ſondern beide
zuſammen die Form eines Lebens bilden: ſo iſt allerdings bei phyſiſchen
Naturerzeugniſſen, welche zuſammen ein Ganzes bilden, das Verhältniß von
Mittel und Zweck nicht vorhanden, und es ſtehen alle Theile auf gleicher
Linie; allein ganz anders doch da, wo Menſchen und eine Einrichtung
für dieſelben in Frage ſtehen. Hier iſt es geradezu abgeſchmackt und un-
würdig, von einer gleichen Bedeutung beider zu reden; und eine unabweis-
bare Forderung der Vernunft iſt es, daß eine jede Einrichtung auch einen
Zweck habe, alſo einen Zweck für Menſchen, wenn ſie durch menſchliche
Kräfte gebildet und gehandhabt wird. — Wenn aber Schleiermacher, a. a. O.,
den Begriff des Staats lediglich in dem, gleichviel wie hervortretenden, Gegen-
ſatze von Obrigkeit und Unterthanen findet, ohne dieſem Verhältniſſe irgend
eine Beſtimmung zu geben: ſo mag damit, wie übrigens auch die Abſicht
iſt, zwar der Unterſchied zwiſchen der naturwüchſigen Horde (dem Stamme)
und einem bewußt geordneten Gemeinweſen bezeichnet ſein, allein es iſt doch
nur die äußere Form dieſer weiteren Entwicklungsſtufe der menſchlichen Ver-
bindungen angegeben. Die Obrigkeit muß nun aber nothwendig ihr Recht
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[71/0085] Mittel zu einer ſolchen allumfaſſenden Erſetzung der Selbſt- beſtimmung der Einzelnen erwerben. ¹⁾ Es wird kaum einer ernſthaften Vertheidigung bedürfen, daß bei der Begriffsbeſtimmung des Staates ein beſtimmter und ein allgemei- ner Zweck deſſelben ſtillſchweigend vorausgeſetzt iſt. Zwar wird das erſtere theils bei einer naturphiloſophiſchen Auffaſſung des Staates, ſo z. B. von A. Müller, Elemente der Staatskunſt, Bd. I, S. 27 fg. ausdrücklich geläugnet, theils wenigſtens von Schleiermacher, Syſtem der Sittenlehre, S. 274 fg. übergangen; das andere aber von K. L. v. Haller, in ſeiner Reſtauration der Staatswiſſenſchaften, in Abrede geſtellt: allein der Irrthum liegt in allen dieſen Fällen zu Tage. — Daß die naturphiloſophiſche Schule den Staat als ein organiſches Gebilde nicht im Sinne einer vielſeitigen und reichen Einrichtung mit einem gemeinſchaftlichen Mittelpunkte und Zwecke, ſondern als ein naturwüchſiges Erzeugniß der Weltordnung mit einer den lebendigen Weſen ähnlichen Natur betrachtet, iſt oben § 6, Anm. 3, bereits erwähnt, dieſe Anſicht aber auch widerlegt; und in der That zeigt ſich die bloße Spielerei einer ſolchen Anſchauung am deutlichſten hier, wo ſie, an ſich folgerichtig, keinen eigenen Zweck für den Staat anerkennt, und ſomit jedes Haltes zur Feſtſtellung eigener Regeln ſeines Handelns und zur Beurtheilung ſeiner Leiſtungen entbehrt. Wenn alſo namentlich Müller behauptet, der Staat ſei ſowenig für den einzelnen Menſchen, als dieſer für den Staat da, ſondern es ſeien vielmehr beide in ungetheilter Gemeinſchaft der Ausdruck eines göttlichen Gedankens, ſowie die Schnecke nicht für die Schale und dieſe nicht für jene beſtimmt ſei, ſondern beide zuſammen die Form eines Lebens bilden: ſo iſt allerdings bei phyſiſchen Naturerzeugniſſen, welche zuſammen ein Ganzes bilden, das Verhältniß von Mittel und Zweck nicht vorhanden, und es ſtehen alle Theile auf gleicher Linie; allein ganz anders doch da, wo Menſchen und eine Einrichtung für dieſelben in Frage ſtehen. Hier iſt es geradezu abgeſchmackt und un- würdig, von einer gleichen Bedeutung beider zu reden; und eine unabweis- bare Forderung der Vernunft iſt es, daß eine jede Einrichtung auch einen Zweck habe, alſo einen Zweck für Menſchen, wenn ſie durch menſchliche Kräfte gebildet und gehandhabt wird. — Wenn aber Schleiermacher, a. a. O., den Begriff des Staats lediglich in dem, gleichviel wie hervortretenden, Gegen- ſatze von Obrigkeit und Unterthanen findet, ohne dieſem Verhältniſſe irgend eine Beſtimmung zu geben: ſo mag damit, wie übrigens auch die Abſicht iſt, zwar der Unterſchied zwiſchen der naturwüchſigen Horde (dem Stamme) und einem bewußt geordneten Gemeinweſen bezeichnet ſein, allein es iſt doch nur die äußere Form dieſer weiteren Entwicklungsſtufe der menſchlichen Ver- bindungen angegeben. Die Obrigkeit muß nun aber nothwendig ihr Recht

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/85>, abgerufen am 23.11.2024.