Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

nun aber nicht etwa nur eine unvollkommene Lösung der Auf-
gabe einer Harmonie, sondern sie ist etwas specifisch Verschie-
denes. Daher denn auch die Aufgabe des Staates nicht bloß
für jene letzte und höchste Stufe gestellt werden muß, sondern
ebenso selbstständig und berechtigt auch für die Erreichung der
übrigen natürlichen Zustände ist. Wenn ein ganzes Volk bis zur
Erstrebung einer harmonischen Ausbildung gediehen ist, so ist
dies freilich um so besser für dasselbe, und auch sein Staat
muß einem solchen wünschenswerthen Zustande entsprechen;
allein deßhalb hören andere Zustände nicht auf, und auch für
sie muß gesorgt werden 3). Daß sich aus dieser Verschieden-
heit der Zwecke der Völker verschiedene Gattungen von Staa-
ten ergeben, wird unten, § 14, nachgewiesen werden; welche
Aufgabe nun aber auch eine solche Gattung verfolgt, ein Staat
bleibt sie immer. Die Beschränkung des Staatsbegriffes auf
einen einzelnen, dem Beurtheiler etwa besonders genehmen,
Zweck ist somit ein logischer Fehler, und enthält überdies die
Quelle vielfachen und großen Unrechtes.

Unter Volk ist hier nur eine einheitlich und räumlich
zusammen wohnende und somit von anderen ähnlichen Zusammen-
schaarungen verschiedene Menschenmenge verstanden; nicht aber
eine Einheit, welche jede Beimischung fremden Stammes aus-
schließt und dagegen alle zur selben Nationalität Gehörige umfaßt.
Gleiche Abstammung der Bevölkerung eines Staates hat aller-
dings große politische Vortheile; aber eine nothwendige Be-
dingung des Staatsbegriffes ist sie nicht, wie sich dies aus der
Erfahrung ergibt. (Vergl. übrigens unten, § 16.)

Daß zum Begriffe eines Staates auch ein besonderes Gebiet
gehört, ist unzweifelhaft, weil die Ausdehnungsgränze seiner
Aufgaben und Mittel bestimmt und seine unbehinderte Wirksamkeit
innerhalb derselben gesichert sein muß; allein es ist bei der
so eben gegebenen Bestimmung dessen, was unter Volk staatlich

nun aber nicht etwa nur eine unvollkommene Löſung der Auf-
gabe einer Harmonie, ſondern ſie iſt etwas ſpecifiſch Verſchie-
denes. Daher denn auch die Aufgabe des Staates nicht bloß
für jene letzte und höchſte Stufe geſtellt werden muß, ſondern
ebenſo ſelbſtſtändig und berechtigt auch für die Erreichung der
übrigen natürlichen Zuſtände iſt. Wenn ein ganzes Volk bis zur
Erſtrebung einer harmoniſchen Ausbildung gediehen iſt, ſo iſt
dies freilich um ſo beſſer für dasſelbe, und auch ſein Staat
muß einem ſolchen wünſchenswerthen Zuſtande entſprechen;
allein deßhalb hören andere Zuſtände nicht auf, und auch für
ſie muß geſorgt werden 3). Daß ſich aus dieſer Verſchieden-
heit der Zwecke der Völker verſchiedene Gattungen von Staa-
ten ergeben, wird unten, § 14, nachgewieſen werden; welche
Aufgabe nun aber auch eine ſolche Gattung verfolgt, ein Staat
bleibt ſie immer. Die Beſchränkung des Staatsbegriffes auf
einen einzelnen, dem Beurtheiler etwa beſonders genehmen,
Zweck iſt ſomit ein logiſcher Fehler, und enthält überdies die
Quelle vielfachen und großen Unrechtes.

Unter Volk iſt hier nur eine einheitlich und räumlich
zuſammen wohnende und ſomit von anderen ähnlichen Zuſammen-
ſchaarungen verſchiedene Menſchenmenge verſtanden; nicht aber
eine Einheit, welche jede Beimiſchung fremden Stammes aus-
ſchließt und dagegen alle zur ſelben Nationalität Gehörige umfaßt.
Gleiche Abſtammung der Bevölkerung eines Staates hat aller-
dings große politiſche Vortheile; aber eine nothwendige Be-
dingung des Staatsbegriffes iſt ſie nicht, wie ſich dies aus der
Erfahrung ergibt. (Vergl. übrigens unten, § 16.)

Daß zum Begriffe eines Staates auch ein beſonderes Gebiet
gehört, iſt unzweifelhaft, weil die Ausdehnungsgränze ſeiner
Aufgaben und Mittel beſtimmt und ſeine unbehinderte Wirkſamkeit
innerhalb derſelben geſichert ſein muß; allein es iſt bei der
ſo eben gegebenen Beſtimmung deſſen, was unter Volk ſtaatlich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0083" n="69"/>
nun aber nicht etwa nur eine unvollkommene Lö&#x017F;ung der Auf-<lb/>
gabe einer Harmonie, &#x017F;ondern &#x017F;ie i&#x017F;t etwas &#x017F;pecifi&#x017F;ch Ver&#x017F;chie-<lb/>
denes. Daher denn auch die Aufgabe des Staates nicht bloß<lb/>
für jene letzte und höch&#x017F;te Stufe ge&#x017F;tellt werden muß, &#x017F;ondern<lb/>
eben&#x017F;o &#x017F;elb&#x017F;t&#x017F;tändig und berechtigt auch für die Erreichung der<lb/>
übrigen natürlichen Zu&#x017F;tände i&#x017F;t. Wenn ein ganzes Volk bis zur<lb/>
Er&#x017F;trebung einer harmoni&#x017F;chen Ausbildung gediehen i&#x017F;t, &#x017F;o i&#x017F;t<lb/>
dies freilich um &#x017F;o be&#x017F;&#x017F;er für das&#x017F;elbe, und auch &#x017F;ein Staat<lb/>
muß einem &#x017F;olchen wün&#x017F;chenswerthen Zu&#x017F;tande ent&#x017F;prechen;<lb/>
allein deßhalb hören andere Zu&#x017F;tände nicht auf, und auch für<lb/>
&#x017F;ie muß ge&#x017F;orgt werden <hi rendition="#sup">3</hi>). Daß &#x017F;ich aus die&#x017F;er Ver&#x017F;chieden-<lb/>
heit der Zwecke der Völker ver&#x017F;chiedene Gattungen von Staa-<lb/>
ten ergeben, wird unten, § 14, nachgewie&#x017F;en werden; welche<lb/>
Aufgabe nun aber auch eine &#x017F;olche Gattung verfolgt, ein Staat<lb/>
bleibt &#x017F;ie immer. Die Be&#x017F;chränkung des Staatsbegriffes auf<lb/>
einen einzelnen, dem Beurtheiler etwa be&#x017F;onders genehmen,<lb/>
Zweck i&#x017F;t &#x017F;omit ein logi&#x017F;cher Fehler, und enthält überdies die<lb/>
Quelle vielfachen und großen Unrechtes.</p><lb/>
            <p>Unter <hi rendition="#g">Volk</hi> i&#x017F;t hier nur eine einheitlich und räumlich<lb/>
zu&#x017F;ammen wohnende und &#x017F;omit von anderen ähnlichen Zu&#x017F;ammen-<lb/>
&#x017F;chaarungen ver&#x017F;chiedene Men&#x017F;chenmenge ver&#x017F;tanden; nicht aber<lb/>
eine Einheit, welche jede Beimi&#x017F;chung fremden Stammes aus-<lb/>
&#x017F;chließt und dagegen alle zur &#x017F;elben Nationalität Gehörige umfaßt.<lb/>
Gleiche Ab&#x017F;tammung der Bevölkerung eines Staates hat aller-<lb/>
dings große politi&#x017F;che Vortheile; aber eine nothwendige Be-<lb/>
dingung des Staatsbegriffes i&#x017F;t &#x017F;ie nicht, wie &#x017F;ich dies aus der<lb/>
Erfahrung ergibt. (Vergl. übrigens unten, § 16.)</p><lb/>
            <p>Daß zum Begriffe eines Staates auch ein be&#x017F;onderes <hi rendition="#g">Gebiet</hi><lb/>
gehört, i&#x017F;t unzweifelhaft, weil die Ausdehnungsgränze &#x017F;einer<lb/>
Aufgaben und Mittel be&#x017F;timmt und &#x017F;eine unbehinderte Wirk&#x017F;amkeit<lb/>
innerhalb der&#x017F;elben ge&#x017F;ichert &#x017F;ein muß; allein es i&#x017F;t bei der<lb/>
&#x017F;o eben gegebenen Be&#x017F;timmung de&#x017F;&#x017F;en, was unter Volk &#x017F;taatlich<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[69/0083] nun aber nicht etwa nur eine unvollkommene Löſung der Auf- gabe einer Harmonie, ſondern ſie iſt etwas ſpecifiſch Verſchie- denes. Daher denn auch die Aufgabe des Staates nicht bloß für jene letzte und höchſte Stufe geſtellt werden muß, ſondern ebenſo ſelbſtſtändig und berechtigt auch für die Erreichung der übrigen natürlichen Zuſtände iſt. Wenn ein ganzes Volk bis zur Erſtrebung einer harmoniſchen Ausbildung gediehen iſt, ſo iſt dies freilich um ſo beſſer für dasſelbe, und auch ſein Staat muß einem ſolchen wünſchenswerthen Zuſtande entſprechen; allein deßhalb hören andere Zuſtände nicht auf, und auch für ſie muß geſorgt werden 3). Daß ſich aus dieſer Verſchieden- heit der Zwecke der Völker verſchiedene Gattungen von Staa- ten ergeben, wird unten, § 14, nachgewieſen werden; welche Aufgabe nun aber auch eine ſolche Gattung verfolgt, ein Staat bleibt ſie immer. Die Beſchränkung des Staatsbegriffes auf einen einzelnen, dem Beurtheiler etwa beſonders genehmen, Zweck iſt ſomit ein logiſcher Fehler, und enthält überdies die Quelle vielfachen und großen Unrechtes. Unter Volk iſt hier nur eine einheitlich und räumlich zuſammen wohnende und ſomit von anderen ähnlichen Zuſammen- ſchaarungen verſchiedene Menſchenmenge verſtanden; nicht aber eine Einheit, welche jede Beimiſchung fremden Stammes aus- ſchließt und dagegen alle zur ſelben Nationalität Gehörige umfaßt. Gleiche Abſtammung der Bevölkerung eines Staates hat aller- dings große politiſche Vortheile; aber eine nothwendige Be- dingung des Staatsbegriffes iſt ſie nicht, wie ſich dies aus der Erfahrung ergibt. (Vergl. übrigens unten, § 16.) Daß zum Begriffe eines Staates auch ein beſonderes Gebiet gehört, iſt unzweifelhaft, weil die Ausdehnungsgränze ſeiner Aufgaben und Mittel beſtimmt und ſeine unbehinderte Wirkſamkeit innerhalb derſelben geſichert ſein muß; allein es iſt bei der ſo eben gegebenen Beſtimmung deſſen, was unter Volk ſtaatlich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/83
Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/83>, abgerufen am 23.11.2024.