türlich muß mit genauer Sachkenntniß nicht nur der unmit- telbaren sondern auch der mittelbaren Folgen einer Einräumung verfahren werden; ebenso versteht sich, daß dem Gegner ein Vortheil in dem Maße angerechnet wird, in welchem er dem- selben nützt, und nicht danach, wie wenig etwa die Einräu- mung diesseits kostet: aber nichts ist verkehrter und dem eige- nen Vortheile hinderlicher, als wenn mit kleinlichem Neide dem Gegentheile jeder Vortheil mißgönnt wird, selbst wenn derselbe diesseits nicht einmal schadet. Es darf nie vergessen werden, daß der fremde Staat die von uns gewünschten Zugeständnisse nicht unseres, sondern vielmehr seines eigenen Vortheiles wegen macht, und daß jedenfalls nur derjenige Vertrag eine längere Dauer verspricht, bei welchem beide Theile ihre Rech- nung finden.
3. Ein allerdings zuweilen zum Ziele führendes, allein höchst gefährliches Mittel sind Retorsionen3). Durch die Erwiderung einer unfreundlichen und nachtheiligen Handlungs- weise eines fremden Staates mittelst eines gleichen und selbst noch einschneidenderen Betragens von unserer Seite kann der- selbe vielleicht zur Besinnung gebracht oder eingeschüchtert wer- den, und insoferne ist das Mittel nicht unbedingt zu verwerfen; allein es ist ebenso möglich und sogar wahrscheinlich, daß der widerwillig gesinnte Nachbar durch eine Erwiderungsmaßregel erbittert und nicht blos in seinem Benehmen bestärkt, sondern sogar zu noch weiter gehenden nachtheiligen Schritten veranlaßt wird. In solchem Falle ist der Schaden aber ein doppelter. Einer Seits nämlich ist das Opfer, welches eine Retorsion fast immer erfordert umsonst gebracht; und anderer Seits ist der weitere zugefügte Nachtheil eine selbstherbeigeführte Verschlim- merung der bisherigen Lage. Aus bloßem Aerger und ohne genaue Untersuchung der Verhältnisse zu retorquiren ist thöricht, und überdies unrecht gegen die darunter leidenden eigenen
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türlich muß mit genauer Sachkenntniß nicht nur der unmit- telbaren ſondern auch der mittelbaren Folgen einer Einräumung verfahren werden; ebenſo verſteht ſich, daß dem Gegner ein Vortheil in dem Maße angerechnet wird, in welchem er dem- ſelben nützt, und nicht danach, wie wenig etwa die Einräu- mung dieſſeits koſtet: aber nichts iſt verkehrter und dem eige- nen Vortheile hinderlicher, als wenn mit kleinlichem Neide dem Gegentheile jeder Vortheil mißgönnt wird, ſelbſt wenn derſelbe dieſſeits nicht einmal ſchadet. Es darf nie vergeſſen werden, daß der fremde Staat die von uns gewünſchten Zugeſtändniſſe nicht unſeres, ſondern vielmehr ſeines eigenen Vortheiles wegen macht, und daß jedenfalls nur derjenige Vertrag eine längere Dauer verſpricht, bei welchem beide Theile ihre Rech- nung finden.
3. Ein allerdings zuweilen zum Ziele führendes, allein höchſt gefährliches Mittel ſind Retorſionen3). Durch die Erwiderung einer unfreundlichen und nachtheiligen Handlungs- weiſe eines fremden Staates mittelſt eines gleichen und ſelbſt noch einſchneidenderen Betragens von unſerer Seite kann der- ſelbe vielleicht zur Beſinnung gebracht oder eingeſchüchtert wer- den, und inſoferne iſt das Mittel nicht unbedingt zu verwerfen; allein es iſt ebenſo möglich und ſogar wahrſcheinlich, daß der widerwillig geſinnte Nachbar durch eine Erwiderungsmaßregel erbittert und nicht blos in ſeinem Benehmen beſtärkt, ſondern ſogar zu noch weiter gehenden nachtheiligen Schritten veranlaßt wird. In ſolchem Falle iſt der Schaden aber ein doppelter. Einer Seits nämlich iſt das Opfer, welches eine Retorſion faſt immer erfordert umſonſt gebracht; und anderer Seits iſt der weitere zugefügte Nachtheil eine ſelbſtherbeigeführte Verſchlim- merung der bisherigen Lage. Aus bloßem Aerger und ohne genaue Unterſuchung der Verhältniſſe zu retorquiren iſt thöricht, und überdies unrecht gegen die darunter leidenden eigenen
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türlich muß mit genauer Sachkenntniß nicht nur der unmit-
telbaren ſondern auch der mittelbaren Folgen einer Einräumung
verfahren werden; ebenſo verſteht ſich, daß dem Gegner ein
Vortheil in dem Maße angerechnet wird, in welchem er dem-
ſelben nützt, und nicht danach, wie wenig etwa die Einräu-
mung dieſſeits koſtet: aber nichts iſt verkehrter und dem eige-
nen Vortheile hinderlicher, als wenn mit kleinlichem Neide dem
Gegentheile jeder Vortheil mißgönnt wird, ſelbſt wenn derſelbe
dieſſeits nicht einmal ſchadet. Es darf nie vergeſſen werden,
daß der fremde Staat die von uns gewünſchten Zugeſtändniſſe
nicht unſeres, ſondern vielmehr ſeines eigenen Vortheiles
wegen macht, und daß jedenfalls nur derjenige Vertrag eine
längere Dauer verſpricht, bei welchem beide Theile ihre Rech-
nung finden.
3. Ein allerdings zuweilen zum Ziele führendes, allein
höchſt gefährliches Mittel ſind Retorſionen 3). Durch die
Erwiderung einer unfreundlichen und nachtheiligen Handlungs-
weiſe eines fremden Staates mittelſt eines gleichen und ſelbſt
noch einſchneidenderen Betragens von unſerer Seite kann der-
ſelbe vielleicht zur Beſinnung gebracht oder eingeſchüchtert wer-
den, und inſoferne iſt das Mittel nicht unbedingt zu verwerfen;
allein es iſt ebenſo möglich und ſogar wahrſcheinlich, daß der
widerwillig geſinnte Nachbar durch eine Erwiderungsmaßregel
erbittert und nicht blos in ſeinem Benehmen beſtärkt, ſondern
ſogar zu noch weiter gehenden nachtheiligen Schritten veranlaßt
wird. In ſolchem Falle iſt der Schaden aber ein doppelter.
Einer Seits nämlich iſt das Opfer, welches eine Retorſion faſt
immer erfordert umſonſt gebracht; und anderer Seits iſt der
weitere zugefügte Nachtheil eine ſelbſtherbeigeführte Verſchlim-
merung der bisherigen Lage. Aus bloßem Aerger und ohne
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und überdies unrecht gegen die darunter leidenden eigenen
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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 707. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/721>, abgerufen am 28.11.2024.
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