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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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allgemeine und sorgfältige staatliche Erziehung aller Mitglieder der Aristo-
kratie beschafft werden.
4) Von folgewidrig beibehaltenen Resten früherer Verfassungen wim-
melt namentlich auch das öffentliche Recht unserer Zeit. So z. B. die An-
nahme einer göttlichen Auctorität im Rechtsstaate überhaupt; die aus-
schließende Herrschaft der katholischen Kirche im constitutionellen Spanien;
die den Ständen zustehende Verwaltung der Staatsschuldenzahlungskasse in
Württemberg; die Bevorrechtung der Standesherren, der Ritterschaft in
deutschen Staaten, welche Gleichheit vor dem Gesetze als Grundsatz auf-
stellen.
5) Die Vernachlässigung der Regel, daß von einem zugegebenen Grund-
satze auch die Folgerungen schnell, ehrlich und vollständig zu ziehen seien,
ist ohne allen Zweifel eine Hauptursache der nicht abreißenden inneren
Kämpfe in den europäischen, namentlich auch in den deutschen Staaten,
und des immer wieder hoch anschwellenden Unmuthes der Völker. Es ist
eine gar schlechte Politik, aus Furcht oder in sonstigem Drange der Um-
stände Grundsätze leichten Kaufes zuzugeben, deren Ausführung man später
zu entgehen hofft. Nicht blos kann diese letztere Hoffnung sehr täuschen,
sondern, was noch weit schlimmer ist, die geflissentliche Verzögerung und
Verkümmerung der Ausführung bringt eine Regierung nothwendig in den
Ruf der Doppelzüngigkeit, Unzuverlässigkeit und Feigheit. Die Folgen
hiervon aber sind einerseits Verlust alles sittlichen Einflusses, andererseits,
unter irgend begünstigenden Umständen, Steigerung der Forderungen bis
zum Unmöglichen und Unvernünftigen. Auch ist bei solchen Hergängen
eine politische Erziehung des Volkes, namentlich ein Sinn für gesetzliche
Freiheit, ganz unmöglich, damit aber auch die Grundlage für innere Ruhe,
Sicherheit und Berechenbarkeit der Zustände.
6) Das System der Mischung verschiedener Staatsgrundgedanken ist
zwar selbst von einem Aristoteles und Cicero empfohlen, und so von Nach-
sprechern fast zum Axiom erhoben. Allein wenn man vorerst unter den
als Beispiele des Gelingens angeführten Staaten diejenigen beseitigt, in
welchen es sich nur von einer Beschränkung der Regierungsgewalt durch
irgend ein populares Element handelt, also diejenigen, bei welchen von
etwas ganz Anderem die Rede ist: so findet sich, daß eine wirklich ver-
suchte Mischung immer zu den schwersten inneren Kämpfen führte, und
entweder nur ein vorübergehender Zustand war oder den Staat in einen
Abgrund stürzte. So die Kämpfe der Patrizier und Plebejer in Rom; so
die inneren Kriege und ihre Gräuel in den italienischen Städten des Mittel-
alters; oder die Zustände in Polen, in Schweden nach Karls XII. Tod
u. s. w. -- Anderer Meinung ist Lord Brougham, Political philosophy,
Bd. III, S. 142 u. f. Das Richtige, jedoch kurz, s. bei Blunschli,
allgemeine und ſorgfältige ſtaatliche Erziehung aller Mitglieder der Ariſto-
kratie beſchafft werden.
4) Von folgewidrig beibehaltenen Reſten früherer Verfaſſungen wim-
melt namentlich auch das öffentliche Recht unſerer Zeit. So z. B. die An-
nahme einer göttlichen Auctorität im Rechtsſtaate überhaupt; die aus-
ſchließende Herrſchaft der katholiſchen Kirche im conſtitutionellen Spanien;
die den Ständen zuſtehende Verwaltung der Staatsſchuldenzahlungskaſſe in
Württemberg; die Bevorrechtung der Standesherren, der Ritterſchaft in
deutſchen Staaten, welche Gleichheit vor dem Geſetze als Grundſatz auf-
ſtellen.
5) Die Vernachläſſigung der Regel, daß von einem zugegebenen Grund-
ſatze auch die Folgerungen ſchnell, ehrlich und vollſtändig zu ziehen ſeien,
iſt ohne allen Zweifel eine Haupturſache der nicht abreißenden inneren
Kämpfe in den europäiſchen, namentlich auch in den deutſchen Staaten,
und des immer wieder hoch anſchwellenden Unmuthes der Völker. Es iſt
eine gar ſchlechte Politik, aus Furcht oder in ſonſtigem Drange der Um-
ſtände Grundſätze leichten Kaufes zuzugeben, deren Ausführung man ſpäter
zu entgehen hofft. Nicht blos kann dieſe letztere Hoffnung ſehr täuſchen,
ſondern, was noch weit ſchlimmer iſt, die gefliſſentliche Verzögerung und
Verkümmerung der Ausführung bringt eine Regierung nothwendig in den
Ruf der Doppelzüngigkeit, Unzuverläſſigkeit und Feigheit. Die Folgen
hiervon aber ſind einerſeits Verluſt alles ſittlichen Einfluſſes, andererſeits,
unter irgend begünſtigenden Umſtänden, Steigerung der Forderungen bis
zum Unmöglichen und Unvernünftigen. Auch iſt bei ſolchen Hergängen
eine politiſche Erziehung des Volkes, namentlich ein Sinn für geſetzliche
Freiheit, ganz unmöglich, damit aber auch die Grundlage für innere Ruhe,
Sicherheit und Berechenbarkeit der Zuſtände.
6) Das Syſtem der Miſchung verſchiedener Staatsgrundgedanken iſt
zwar ſelbſt von einem Ariſtoteles und Cicero empfohlen, und ſo von Nach-
ſprechern faſt zum Axiom erhoben. Allein wenn man vorerſt unter den
als Beiſpiele des Gelingens angeführten Staaten diejenigen beſeitigt, in
welchen es ſich nur von einer Beſchränkung der Regierungsgewalt durch
irgend ein populares Element handelt, alſo diejenigen, bei welchen von
etwas ganz Anderem die Rede iſt: ſo findet ſich, daß eine wirklich ver-
ſuchte Miſchung immer zu den ſchwerſten inneren Kämpfen führte, und
entweder nur ein vorübergehender Zuſtand war oder den Staat in einen
Abgrund ſtürzte. So die Kämpfe der Patrizier und Plebejer in Rom; ſo
die inneren Kriege und ihre Gräuel in den italieniſchen Städten des Mittel-
alters; oder die Zuſtände in Polen, in Schweden nach Karls XII. Tod
u. ſ. w. — Anderer Meinung iſt Lord Brougham, Political philosophy,
Bd. III, S. 142 u. f. Das Richtige, jedoch kurz, ſ. bei Blunſchli,
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[604/0618] ³⁾ allgemeine und ſorgfältige ſtaatliche Erziehung aller Mitglieder der Ariſto- kratie beſchafft werden. ⁴⁾ Von folgewidrig beibehaltenen Reſten früherer Verfaſſungen wim- melt namentlich auch das öffentliche Recht unſerer Zeit. So z. B. die An- nahme einer göttlichen Auctorität im Rechtsſtaate überhaupt; die aus- ſchließende Herrſchaft der katholiſchen Kirche im conſtitutionellen Spanien; die den Ständen zuſtehende Verwaltung der Staatsſchuldenzahlungskaſſe in Württemberg; die Bevorrechtung der Standesherren, der Ritterſchaft in deutſchen Staaten, welche Gleichheit vor dem Geſetze als Grundſatz auf- ſtellen. ⁵⁾ Die Vernachläſſigung der Regel, daß von einem zugegebenen Grund- ſatze auch die Folgerungen ſchnell, ehrlich und vollſtändig zu ziehen ſeien, iſt ohne allen Zweifel eine Haupturſache der nicht abreißenden inneren Kämpfe in den europäiſchen, namentlich auch in den deutſchen Staaten, und des immer wieder hoch anſchwellenden Unmuthes der Völker. Es iſt eine gar ſchlechte Politik, aus Furcht oder in ſonſtigem Drange der Um- ſtände Grundſätze leichten Kaufes zuzugeben, deren Ausführung man ſpäter zu entgehen hofft. Nicht blos kann dieſe letztere Hoffnung ſehr täuſchen, ſondern, was noch weit ſchlimmer iſt, die gefliſſentliche Verzögerung und Verkümmerung der Ausführung bringt eine Regierung nothwendig in den Ruf der Doppelzüngigkeit, Unzuverläſſigkeit und Feigheit. Die Folgen hiervon aber ſind einerſeits Verluſt alles ſittlichen Einfluſſes, andererſeits, unter irgend begünſtigenden Umſtänden, Steigerung der Forderungen bis zum Unmöglichen und Unvernünftigen. Auch iſt bei ſolchen Hergängen eine politiſche Erziehung des Volkes, namentlich ein Sinn für geſetzliche Freiheit, ganz unmöglich, damit aber auch die Grundlage für innere Ruhe, Sicherheit und Berechenbarkeit der Zuſtände. ⁶⁾ Das Syſtem der Miſchung verſchiedener Staatsgrundgedanken iſt zwar ſelbſt von einem Ariſtoteles und Cicero empfohlen, und ſo von Nach- ſprechern faſt zum Axiom erhoben. Allein wenn man vorerſt unter den als Beiſpiele des Gelingens angeführten Staaten diejenigen beſeitigt, in welchen es ſich nur von einer Beſchränkung der Regierungsgewalt durch irgend ein populares Element handelt, alſo diejenigen, bei welchen von etwas ganz Anderem die Rede iſt: ſo findet ſich, daß eine wirklich ver- ſuchte Miſchung immer zu den ſchwerſten inneren Kämpfen führte, und entweder nur ein vorübergehender Zuſtand war oder den Staat in einen Abgrund ſtürzte. So die Kämpfe der Patrizier und Plebejer in Rom; ſo die inneren Kriege und ihre Gräuel in den italieniſchen Städten des Mittel- alters; oder die Zuſtände in Polen, in Schweden nach Karls XII. Tod u. ſ. w. — Anderer Meinung iſt Lord Brougham, Political philosophy, Bd. III, S. 142 u. f. Das Richtige, jedoch kurz, ſ. bei Blunſchli,

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 604. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/618>, abgerufen am 24.11.2024.