Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

durchaus nicht genügenden staatlichen Zustande ist eine
ernstliche Hinwirkung auf eine wesentliche Aenderung nicht nur
erlaubt, sondern entschiedene Pflicht. Auch hier darf die richtige
Reihenfolge der Bemühungen nicht verlassen werden; nur mögen
sich allerdings die Mittel zur Durchsetzung der berechtigten
Forderungen im Nothfalle bis zu thatsächlicher Durchsetzung
steigern. Unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen
dieser äußerste und in vielen Richtungen höchst gefährliche
Schritt rechtlich nicht mehr zu tadeln ist, hat eine Erörterung
bereits gefunden, (s. oben, § 22, S. 162 fg.;) daß deren
strengste Einhaltung auch vom sittlichen Standpunkte aus Pflicht
ist, versteht sich von selbst 5).

Da eine Revolution nur ein Zustand thatsächlichen Wi-
derstandes gegen ein thatsächliches Unrecht ist, und da sie über-
haupt rechtlich und sittlich nur dann eine Vertheidigung finden
kann, wenn sie ein besseres Recht und eine höhere menschliche
Gesittigung erstrebt, so ergiebt sich, daß die zu einem solchen
äußersten Mittel Getriebenen von der Einhaltung der For-
derungen des allgemeinen Rechtes und des Sittengesetzes keines-
wegs befreit sind. Eine Revolution ist nicht an die Formen
des bestehenden positiven Rechts gebunden, eben weil sie
dieses ändern will; allein sie ist kein Freibrief für jede Gewalt-
that und Schändlichkeit 6).

1) Es ist ein Beweis von völliger Gedankenlosigkeit, wenn Erfüllung
der Bürgerpflicht und sittliche Ehre nur und unter allen Umständen
auf Seiten der Widerspruchspartei gefunden werden will. Wenn die staat-
lichen Zustände befriedigend, und die Regierung gerecht und nützlich thätig
ist, so ist nicht ein Angriff auf sie, sondern ein treues Festhalten an ihr
Pflicht, weil Forderung der Vernunft. In einem solchen Falle ist selbst ein
negatives Stillsitzen bei Angriffen auf das Bestehende nicht blos unklug und
feig, sondern auch geradezu unsittlich. Eine weite Verbreitung einer dieser
einfachen Wahrheit entgegengesetzten Ansicht ist freilich auch ein Beweis von
allgemeinen schlechten Zuständen, weil nur unter deren Eindruck eine solche
Verkehrtheit möglich ist.

durchaus nicht genügenden ſtaatlichen Zuſtande iſt eine
ernſtliche Hinwirkung auf eine weſentliche Aenderung nicht nur
erlaubt, ſondern entſchiedene Pflicht. Auch hier darf die richtige
Reihenfolge der Bemühungen nicht verlaſſen werden; nur mögen
ſich allerdings die Mittel zur Durchſetzung der berechtigten
Forderungen im Nothfalle bis zu thatſächlicher Durchſetzung
ſteigern. Unter welchen Vorausſetzungen und Bedingungen
dieſer äußerſte und in vielen Richtungen höchſt gefährliche
Schritt rechtlich nicht mehr zu tadeln iſt, hat eine Erörterung
bereits gefunden, (ſ. oben, § 22, S. 162 fg.;) daß deren
ſtrengſte Einhaltung auch vom ſittlichen Standpunkte aus Pflicht
iſt, verſteht ſich von ſelbſt 5).

Da eine Revolution nur ein Zuſtand thatſächlichen Wi-
derſtandes gegen ein thatſächliches Unrecht iſt, und da ſie über-
haupt rechtlich und ſittlich nur dann eine Vertheidigung finden
kann, wenn ſie ein beſſeres Recht und eine höhere menſchliche
Geſittigung erſtrebt, ſo ergiebt ſich, daß die zu einem ſolchen
äußerſten Mittel Getriebenen von der Einhaltung der For-
derungen des allgemeinen Rechtes und des Sittengeſetzes keines-
wegs befreit ſind. Eine Revolution iſt nicht an die Formen
des beſtehenden poſitiven Rechts gebunden, eben weil ſie
dieſes ändern will; allein ſie iſt kein Freibrief für jede Gewalt-
that und Schändlichkeit 6).

1) Es iſt ein Beweis von völliger Gedankenloſigkeit, wenn Erfüllung
der Bürgerpflicht und ſittliche Ehre nur und unter allen Umſtänden
auf Seiten der Widerſpruchspartei gefunden werden will. Wenn die ſtaat-
lichen Zuſtände befriedigend, und die Regierung gerecht und nützlich thätig
iſt, ſo iſt nicht ein Angriff auf ſie, ſondern ein treues Feſthalten an ihr
Pflicht, weil Forderung der Vernunft. In einem ſolchen Falle iſt ſelbſt ein
negatives Stillſitzen bei Angriffen auf das Beſtehende nicht blos unklug und
feig, ſondern auch geradezu unſittlich. Eine weite Verbreitung einer dieſer
einfachen Wahrheit entgegengeſetzten Anſicht iſt freilich auch ein Beweis von
allgemeinen ſchlechten Zuſtänden, weil nur unter deren Eindruck eine ſolche
Verkehrtheit möglich iſt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0542" n="528"/>
durchaus <hi rendition="#g">nicht genügenden</hi> &#x017F;taatlichen Zu&#x017F;tande i&#x017F;t eine<lb/>
ern&#x017F;tliche Hinwirkung auf eine we&#x017F;entliche Aenderung nicht nur<lb/>
erlaubt, &#x017F;ondern ent&#x017F;chiedene Pflicht. Auch hier darf die richtige<lb/>
Reihenfolge der Bemühungen nicht verla&#x017F;&#x017F;en werden; nur mögen<lb/>
&#x017F;ich allerdings die Mittel zur Durch&#x017F;etzung der berechtigten<lb/>
Forderungen im Nothfalle bis zu that&#x017F;ächlicher Durch&#x017F;etzung<lb/>
&#x017F;teigern. Unter welchen Voraus&#x017F;etzungen und Bedingungen<lb/>
die&#x017F;er äußer&#x017F;te und in vielen Richtungen höch&#x017F;t gefährliche<lb/>
Schritt rechtlich nicht mehr zu tadeln i&#x017F;t, hat eine Erörterung<lb/>
bereits gefunden, (&#x017F;. oben, § 22, S. 162 fg.;) daß deren<lb/>
&#x017F;treng&#x017F;te Einhaltung auch vom &#x017F;ittlichen Standpunkte aus Pflicht<lb/>
i&#x017F;t, ver&#x017F;teht &#x017F;ich von &#x017F;elb&#x017F;t <hi rendition="#sup">5</hi>).</p><lb/>
              <p>Da eine Revolution nur ein Zu&#x017F;tand that&#x017F;ächlichen Wi-<lb/>
der&#x017F;tandes gegen ein that&#x017F;ächliches Unrecht i&#x017F;t, und da &#x017F;ie über-<lb/>
haupt rechtlich und &#x017F;ittlich nur dann eine Vertheidigung finden<lb/>
kann, wenn &#x017F;ie ein be&#x017F;&#x017F;eres Recht und eine höhere men&#x017F;chliche<lb/>
Ge&#x017F;ittigung er&#x017F;trebt, &#x017F;o ergiebt &#x017F;ich, daß die zu einem &#x017F;olchen<lb/>
äußer&#x017F;ten Mittel Getriebenen von der Einhaltung der For-<lb/>
derungen des allgemeinen Rechtes und des Sittenge&#x017F;etzes keines-<lb/>
wegs befreit &#x017F;ind. Eine Revolution i&#x017F;t nicht an die Formen<lb/>
des be&#x017F;tehenden po&#x017F;itiven Rechts gebunden, eben weil &#x017F;ie<lb/>
die&#x017F;es ändern will; allein &#x017F;ie i&#x017F;t kein Freibrief für jede Gewalt-<lb/>
that und Schändlichkeit <hi rendition="#sup">6</hi>).</p><lb/>
              <note place="end" n="1)">Es i&#x017F;t ein Beweis von völliger Gedankenlo&#x017F;igkeit, wenn Erfüllung<lb/>
der Bürgerpflicht und &#x017F;ittliche Ehre <hi rendition="#g">nur</hi> und <hi rendition="#g">unter allen Um&#x017F;tänden</hi><lb/>
auf Seiten der Wider&#x017F;pruchspartei gefunden werden will. Wenn die &#x017F;taat-<lb/>
lichen Zu&#x017F;tände befriedigend, und die Regierung gerecht und nützlich thätig<lb/>
i&#x017F;t, &#x017F;o i&#x017F;t nicht ein Angriff auf &#x017F;ie, &#x017F;ondern ein treues Fe&#x017F;thalten an ihr<lb/>
Pflicht, weil Forderung der Vernunft. In einem &#x017F;olchen Falle i&#x017F;t &#x017F;elb&#x017F;t ein<lb/>
negatives Still&#x017F;itzen bei Angriffen auf das Be&#x017F;tehende nicht blos unklug und<lb/>
feig, &#x017F;ondern auch geradezu un&#x017F;ittlich. Eine weite Verbreitung einer die&#x017F;er<lb/>
einfachen Wahrheit entgegenge&#x017F;etzten An&#x017F;icht i&#x017F;t freilich auch ein Beweis von<lb/>
allgemeinen &#x017F;chlechten Zu&#x017F;tänden, weil nur unter deren Eindruck eine &#x017F;olche<lb/>
Verkehrtheit möglich i&#x017F;t.</note><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[528/0542] durchaus nicht genügenden ſtaatlichen Zuſtande iſt eine ernſtliche Hinwirkung auf eine weſentliche Aenderung nicht nur erlaubt, ſondern entſchiedene Pflicht. Auch hier darf die richtige Reihenfolge der Bemühungen nicht verlaſſen werden; nur mögen ſich allerdings die Mittel zur Durchſetzung der berechtigten Forderungen im Nothfalle bis zu thatſächlicher Durchſetzung ſteigern. Unter welchen Vorausſetzungen und Bedingungen dieſer äußerſte und in vielen Richtungen höchſt gefährliche Schritt rechtlich nicht mehr zu tadeln iſt, hat eine Erörterung bereits gefunden, (ſ. oben, § 22, S. 162 fg.;) daß deren ſtrengſte Einhaltung auch vom ſittlichen Standpunkte aus Pflicht iſt, verſteht ſich von ſelbſt 5). Da eine Revolution nur ein Zuſtand thatſächlichen Wi- derſtandes gegen ein thatſächliches Unrecht iſt, und da ſie über- haupt rechtlich und ſittlich nur dann eine Vertheidigung finden kann, wenn ſie ein beſſeres Recht und eine höhere menſchliche Geſittigung erſtrebt, ſo ergiebt ſich, daß die zu einem ſolchen äußerſten Mittel Getriebenen von der Einhaltung der For- derungen des allgemeinen Rechtes und des Sittengeſetzes keines- wegs befreit ſind. Eine Revolution iſt nicht an die Formen des beſtehenden poſitiven Rechts gebunden, eben weil ſie dieſes ändern will; allein ſie iſt kein Freibrief für jede Gewalt- that und Schändlichkeit 6). ¹⁾ Es iſt ein Beweis von völliger Gedankenloſigkeit, wenn Erfüllung der Bürgerpflicht und ſittliche Ehre nur und unter allen Umſtänden auf Seiten der Widerſpruchspartei gefunden werden will. Wenn die ſtaat- lichen Zuſtände befriedigend, und die Regierung gerecht und nützlich thätig iſt, ſo iſt nicht ein Angriff auf ſie, ſondern ein treues Feſthalten an ihr Pflicht, weil Forderung der Vernunft. In einem ſolchen Falle iſt ſelbſt ein negatives Stillſitzen bei Angriffen auf das Beſtehende nicht blos unklug und feig, ſondern auch geradezu unſittlich. Eine weite Verbreitung einer dieſer einfachen Wahrheit entgegengeſetzten Anſicht iſt freilich auch ein Beweis von allgemeinen ſchlechten Zuſtänden, weil nur unter deren Eindruck eine ſolche Verkehrtheit möglich iſt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/542
Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 528. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/542>, abgerufen am 24.11.2024.