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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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den; auch könnten bei so engem Verbande die irgendwo ge-
machten Verbesserungen überall Eingang finden; durch alles
dieses aber würde dem menschlichen Dasein ein höheres Ziel ge-
steckt, das ganze Leben gehoben werden. Begreiflich gehört jedoch
schon zur Auffassung eines solchen organischen Lebens vieler
Staaten, und noch mehr zu der folgerichtigen und vollständi-
gen Durchführung, ein hoher Grad von Gesittigung, und müs-
sen einem solchen Zustande viele und lange Ordnungen der
internationalen und der bundesstaatlichen Verhältnisse aus nie-
dereren Gesichtspunkten und auf tieferen Stufen vorangehen.
Erst einer späten Zukunft ist daher die Erreichung einer sol-
chen Organisation der gesammten Menschheit vorbehalten, wenn
sie je überhaupt eintritt. Dann werden sich auch wohl die
hierzu passenden Formen finden, deren vorzeitige Erörterung
von keinerlei Nutzen wäre 2). Bis jetzt sind kaum vereinzelte
und nicht immer bewußte Anfänge zu einer solchen höheren
Ausbildung des Zusammenlebens gemacht, und selbst die Wis-
senschaft ist erst mit dem Begreifen der Aufgabe beschäftigt 3).

1) Es würde geringe Einsicht in die Geschichte der Entwicklung des
Menschengeschlechtes im Allgemeinen und des Völkerrechtes im Besondern
beweisen, wenn aus dem jetzigen noch unvollkommenen Zustande der inter-
nationalen Ordnung im Gegensatze mit anderen vorgerückteren Seiten des
Lebens geschlossen werden wollte, daß die Menschen eine höhere Stufe der-
selben nicht zu erreichen vermögen. Die Fortschritte in diesen Verhältnissen
sind allerdings außerordentlich langsam; allein die Gesittigung hat doch
einen bedeutenden Weg zurückgelegt, namentlich seit dem classischen Alter-
thume, welches den Fremden nur als rechtlosen Feind aufzufassen vermochte.
Es ist daher die Hoffnung gar nicht aufzugeben, daß auch noch eine weitere
Steigerung zunächst des rechtlichen Bewußtseins, dann aber allmälig auch
der ganzen sittlichen Auffassung eintreten werde. Jedenfalls ist die Staaten-
verbindung in ihren verschiedenen Auffassungen als das abschließende Glied
in der Reihenfolge der menschlichen Lebenskreise aufzuführen, da dieselbe
eine logische Nothwendigkeit ist und wenigstens unvollkommene Anfänge
bereits bestehen.
2) Die Forderung eines endlichen rein vernünftigen Verhaltens der

den; auch könnten bei ſo engem Verbande die irgendwo ge-
machten Verbeſſerungen überall Eingang finden; durch alles
dieſes aber würde dem menſchlichen Daſein ein höheres Ziel ge-
ſteckt, das ganze Leben gehoben werden. Begreiflich gehört jedoch
ſchon zur Auffaſſung eines ſolchen organiſchen Lebens vieler
Staaten, und noch mehr zu der folgerichtigen und vollſtändi-
gen Durchführung, ein hoher Grad von Geſittigung, und müſ-
ſen einem ſolchen Zuſtande viele und lange Ordnungen der
internationalen und der bundesſtaatlichen Verhältniſſe aus nie-
dereren Geſichtspunkten und auf tieferen Stufen vorangehen.
Erſt einer ſpäten Zukunft iſt daher die Erreichung einer ſol-
chen Organiſation der geſammten Menſchheit vorbehalten, wenn
ſie je überhaupt eintritt. Dann werden ſich auch wohl die
hierzu paſſenden Formen finden, deren vorzeitige Erörterung
von keinerlei Nutzen wäre 2). Bis jetzt ſind kaum vereinzelte
und nicht immer bewußte Anfänge zu einer ſolchen höheren
Ausbildung des Zuſammenlebens gemacht, und ſelbſt die Wiſ-
ſenſchaft iſt erſt mit dem Begreifen der Aufgabe beſchäftigt 3).

1) Es würde geringe Einſicht in die Geſchichte der Entwicklung des
Menſchengeſchlechtes im Allgemeinen und des Völkerrechtes im Beſondern
beweiſen, wenn aus dem jetzigen noch unvollkommenen Zuſtande der inter-
nationalen Ordnung im Gegenſatze mit anderen vorgerückteren Seiten des
Lebens geſchloſſen werden wollte, daß die Menſchen eine höhere Stufe der-
ſelben nicht zu erreichen vermögen. Die Fortſchritte in dieſen Verhältniſſen
ſind allerdings außerordentlich langſam; allein die Geſittigung hat doch
einen bedeutenden Weg zurückgelegt, namentlich ſeit dem claſſiſchen Alter-
thume, welches den Fremden nur als rechtloſen Feind aufzufaſſen vermochte.
Es iſt daher die Hoffnung gar nicht aufzugeben, daß auch noch eine weitere
Steigerung zunächſt des rechtlichen Bewußtſeins, dann aber allmälig auch
der ganzen ſittlichen Auffaſſung eintreten werde. Jedenfalls iſt die Staaten-
verbindung in ihren verſchiedenen Auffaſſungen als das abſchließende Glied
in der Reihenfolge der menſchlichen Lebenskreiſe aufzuführen, da dieſelbe
eine logiſche Nothwendigkeit iſt und wenigſtens unvollkommene Anfänge
bereits beſtehen.
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[39/0053] den; auch könnten bei ſo engem Verbande die irgendwo ge- machten Verbeſſerungen überall Eingang finden; durch alles dieſes aber würde dem menſchlichen Daſein ein höheres Ziel ge- ſteckt, das ganze Leben gehoben werden. Begreiflich gehört jedoch ſchon zur Auffaſſung eines ſolchen organiſchen Lebens vieler Staaten, und noch mehr zu der folgerichtigen und vollſtändi- gen Durchführung, ein hoher Grad von Geſittigung, und müſ- ſen einem ſolchen Zuſtande viele und lange Ordnungen der internationalen und der bundesſtaatlichen Verhältniſſe aus nie- dereren Geſichtspunkten und auf tieferen Stufen vorangehen. Erſt einer ſpäten Zukunft iſt daher die Erreichung einer ſol- chen Organiſation der geſammten Menſchheit vorbehalten, wenn ſie je überhaupt eintritt. Dann werden ſich auch wohl die hierzu paſſenden Formen finden, deren vorzeitige Erörterung von keinerlei Nutzen wäre 2). Bis jetzt ſind kaum vereinzelte und nicht immer bewußte Anfänge zu einer ſolchen höheren Ausbildung des Zuſammenlebens gemacht, und ſelbſt die Wiſ- ſenſchaft iſt erſt mit dem Begreifen der Aufgabe beſchäftigt 3). ¹⁾ Es würde geringe Einſicht in die Geſchichte der Entwicklung des Menſchengeſchlechtes im Allgemeinen und des Völkerrechtes im Beſondern beweiſen, wenn aus dem jetzigen noch unvollkommenen Zuſtande der inter- nationalen Ordnung im Gegenſatze mit anderen vorgerückteren Seiten des Lebens geſchloſſen werden wollte, daß die Menſchen eine höhere Stufe der- ſelben nicht zu erreichen vermögen. Die Fortſchritte in dieſen Verhältniſſen ſind allerdings außerordentlich langſam; allein die Geſittigung hat doch einen bedeutenden Weg zurückgelegt, namentlich ſeit dem claſſiſchen Alter- thume, welches den Fremden nur als rechtloſen Feind aufzufaſſen vermochte. Es iſt daher die Hoffnung gar nicht aufzugeben, daß auch noch eine weitere Steigerung zunächſt des rechtlichen Bewußtſeins, dann aber allmälig auch der ganzen ſittlichen Auffaſſung eintreten werde. Jedenfalls iſt die Staaten- verbindung in ihren verſchiedenen Auffaſſungen als das abſchließende Glied in der Reihenfolge der menſchlichen Lebenskreiſe aufzuführen, da dieſelbe eine logiſche Nothwendigkeit iſt und wenigſtens unvollkommene Anfänge bereits beſtehen. ²⁾ Die Forderung eines endlichen rein vernünftigen Verhaltens der

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/53>, abgerufen am 22.11.2024.