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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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Vertheidigung des verletzten Rechtes, aber nicht zur Zufügung
eines selbstständigen Unrechtes. -- Ob die Regierung eine Re-
torsionsmaßregel in eigner Machtvollkommenheit anordnen kann,
oder ob sie hierzu der Mitwirkung anderer Faktoren des Staats-
willens, z. B. der Ständeversammlung, bedarf, hängt von dem
sachlichen Inhalte der Anordnung ab, und es fällt die Beur-
theilung hierüber lediglich dem Staatsrechte anheim 2).

Wesentlich verschieden von der Retorsion ist die Repres-
salie
, welche wesentlich in der Zufügung eines Unrechtes wegen
zuerst erlittener Beeinträchtigung besteht 3). Obgleich sowohl
der Zweck als die Wirkung einer solchen Maßregel die gleichen,
wie die einer Retorsion sind, so kann doch, aus den eben
angeführten Gründen, das philosophische Völkerrecht die Zufügung
eines bewußten und selbstständigen Unrechtes nicht billigen.
Daß das positive europäische Völkerrecht Repressalien nicht ver-
wirft, ändert in dieser Auffassung nichts; vielmehr muß die
Forderung gestellt werden, daß diese Uebung als ein Rest unge-
sittigter Rachsucht aufgegeben werde.

1) Beispiele von Retorsionen sind: Auflegung eines hohen Differenzial-
zolles auf die Waaren des Gegners, falls er zuerst einem diesseitigen Ge-
werbeinteresse unbillig zu nahe getreten ist; die Zurücknahme freiwillig
eingeräumter und nicht durch Vertrag gesicherter Bevorrechtungen der Ange-
hörigen des fremden Staates in diesseitigem Gebiete; die Aufkündigung von
Verträgen zu gemeinschaftlicher Beschaffung von Vortheilen, deren größere
Hälfte dem Gegner zu Gute kömmt; eine Schifffahrtsakte im Falle der Er-
schwerung des diesseitigen Handels mit den Kolonieen des Gegners u. s. w.
2) Nur durch ein Gesetz, also mit Zustimmung der Stände, kann
unter Anderem eine retorquirende Zollerhöhung oder die Aufhebung einer
Begünstigung der Fremden in der Prozeßordnung erfolgen; dagegen mag
die Regierung auch in einem konstitutionellen Staate einseitig vorgehen bei
der Entziehung des Exequatur für Consuln, bei der Verweigerung einer
längeren Benützung diesseitiger Anstalten durch den fremden Staat oder seine
Angehörigen, bei der Aufhebung eines Vorrechtes, welches lediglich Fremden
zugute kam, deren Rechtswächter die diesseitigen Landstände nicht sind.
3) Repressalien werden geübt, wenn wegen einer ungerechten Hinrich-
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Vertheidigung des verletzten Rechtes, aber nicht zur Zufügung
eines ſelbſtſtändigen Unrechtes. — Ob die Regierung eine Re-
torſionsmaßregel in eigner Machtvollkommenheit anordnen kann,
oder ob ſie hierzu der Mitwirkung anderer Faktoren des Staats-
willens, z. B. der Ständeverſammlung, bedarf, hängt von dem
ſachlichen Inhalte der Anordnung ab, und es fällt die Beur-
theilung hierüber lediglich dem Staatsrechte anheim 2).

Weſentlich verſchieden von der Retorſion iſt die Repreſ-
ſalie
, welche weſentlich in der Zufügung eines Unrechtes wegen
zuerſt erlittener Beeinträchtigung beſteht 3). Obgleich ſowohl
der Zweck als die Wirkung einer ſolchen Maßregel die gleichen,
wie die einer Retorſion ſind, ſo kann doch, aus den eben
angeführten Gründen, das philoſophiſche Völkerrecht die Zufügung
eines bewußten und ſelbſtſtändigen Unrechtes nicht billigen.
Daß das poſitive europäiſche Völkerrecht Repreſſalien nicht ver-
wirft, ändert in dieſer Auffaſſung nichts; vielmehr muß die
Forderung geſtellt werden, daß dieſe Uebung als ein Reſt unge-
ſittigter Rachſucht aufgegeben werde.

1) Beiſpiele von Retorſionen ſind: Auflegung eines hohen Differenzial-
zolles auf die Waaren des Gegners, falls er zuerſt einem dieſſeitigen Ge-
werbeintereſſe unbillig zu nahe getreten iſt; die Zurücknahme freiwillig
eingeräumter und nicht durch Vertrag geſicherter Bevorrechtungen der Ange-
hörigen des fremden Staates in dieſſeitigem Gebiete; die Aufkündigung von
Verträgen zu gemeinſchaftlicher Beſchaffung von Vortheilen, deren größere
Hälfte dem Gegner zu Gute kömmt; eine Schifffahrtsakte im Falle der Er-
ſchwerung des dieſſeitigen Handels mit den Kolonieen des Gegners u. ſ. w.
2) Nur durch ein Geſetz, alſo mit Zuſtimmung der Stände, kann
unter Anderem eine retorquirende Zollerhöhung oder die Aufhebung einer
Begünſtigung der Fremden in der Prozeßordnung erfolgen; dagegen mag
die Regierung auch in einem konſtitutionellen Staate einſeitig vorgehen bei
der Entziehung des Exequatur für Conſuln, bei der Verweigerung einer
längeren Benützung dieſſeitiger Anſtalten durch den fremden Staat oder ſeine
Angehörigen, bei der Aufhebung eines Vorrechtes, welches lediglich Fremden
zugute kam, deren Rechtswächter die dieſſeitigen Landſtände nicht ſind.
3) Repreſſalien werden geübt, wenn wegen einer ungerechten Hinrich-
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[451/0465] Vertheidigung des verletzten Rechtes, aber nicht zur Zufügung eines ſelbſtſtändigen Unrechtes. — Ob die Regierung eine Re- torſionsmaßregel in eigner Machtvollkommenheit anordnen kann, oder ob ſie hierzu der Mitwirkung anderer Faktoren des Staats- willens, z. B. der Ständeverſammlung, bedarf, hängt von dem ſachlichen Inhalte der Anordnung ab, und es fällt die Beur- theilung hierüber lediglich dem Staatsrechte anheim 2). Weſentlich verſchieden von der Retorſion iſt die Repreſ- ſalie, welche weſentlich in der Zufügung eines Unrechtes wegen zuerſt erlittener Beeinträchtigung beſteht 3). Obgleich ſowohl der Zweck als die Wirkung einer ſolchen Maßregel die gleichen, wie die einer Retorſion ſind, ſo kann doch, aus den eben angeführten Gründen, das philoſophiſche Völkerrecht die Zufügung eines bewußten und ſelbſtſtändigen Unrechtes nicht billigen. Daß das poſitive europäiſche Völkerrecht Repreſſalien nicht ver- wirft, ändert in dieſer Auffaſſung nichts; vielmehr muß die Forderung geſtellt werden, daß dieſe Uebung als ein Reſt unge- ſittigter Rachſucht aufgegeben werde. ¹⁾ Beiſpiele von Retorſionen ſind: Auflegung eines hohen Differenzial- zolles auf die Waaren des Gegners, falls er zuerſt einem dieſſeitigen Ge- werbeintereſſe unbillig zu nahe getreten iſt; die Zurücknahme freiwillig eingeräumter und nicht durch Vertrag geſicherter Bevorrechtungen der Ange- hörigen des fremden Staates in dieſſeitigem Gebiete; die Aufkündigung von Verträgen zu gemeinſchaftlicher Beſchaffung von Vortheilen, deren größere Hälfte dem Gegner zu Gute kömmt; eine Schifffahrtsakte im Falle der Er- ſchwerung des dieſſeitigen Handels mit den Kolonieen des Gegners u. ſ. w. ²⁾ Nur durch ein Geſetz, alſo mit Zuſtimmung der Stände, kann unter Anderem eine retorquirende Zollerhöhung oder die Aufhebung einer Begünſtigung der Fremden in der Prozeßordnung erfolgen; dagegen mag die Regierung auch in einem konſtitutionellen Staate einſeitig vorgehen bei der Entziehung des Exequatur für Conſuln, bei der Verweigerung einer längeren Benützung dieſſeitiger Anſtalten durch den fremden Staat oder ſeine Angehörigen, bei der Aufhebung eines Vorrechtes, welches lediglich Fremden zugute kam, deren Rechtswächter die dieſſeitigen Landſtände nicht ſind. ³⁾ Repreſſalien werden geübt, wenn wegen einer ungerechten Hinrich- 29*

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 451. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/465>, abgerufen am 24.11.2024.