Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

Staatsgattung herbeizuführen im Stande ist, so mag er dafür
auf gesetzlichem Wege wirken; bis dahin aber hat sich die Min-
derzahl zu fügen, und der sittliche Grund der abweichenden
Ansicht giebt keine Berechtigung zum Ungehorsam gegen das
bestehende Gesetz 4). -- Siebentens, Recht der Ortsverände-
rung
. Der Bürger eines Rechtsstaates gehört demselben nicht
blos an, insoferne er Mitglied einer bestimmten Genossenschaft
ist, sondern er ist ein Theil des großen Ganzen, und das
ganze Staatsgebiet ist sein Vaterland. Wo er also innerhalb
desselben seine Zwecke am besten erreichen kann, mag er sich
aufhalten. Hiermit sind Bestimmungen über besondere Be-
dingungen zur Erwerbung von Korporationsrechten und aus-
nahmsweise Vorschriften über gezwungene Eingrenzung oder
Ausweisung von Verdächtigen und über Unterstützung Bedürf-
tiger wohl vereinbar. -- Achtens endlich, die Befugniß zur Bil-
dung freiwilliger Vereine zu gemeinschaftlicher Verfol-
gung erlaubter, d. h. nicht unrechtlicher und nicht gemeinschäd-
licher Zwecke. Inwieferne auch staatliche Aufgaben durch solche
Vereine erstrebt werden dürfen, hängt von der Verfassungsart
ab. Wo das Volk grundsätzlich von der eigenen Theilnahme
an den öffentlichen Angelegenheiten ganz ausgeschlossen ist, da
hätten freiwillige Vereine zur Erlangung eines solchen Ein-
flusses keinen erlaubten Zweck, und wären im Widerspruche
mit dem Gedanken der Verfassung. Dagegen sind sie an der
Stelle, wo und inwieweit sie die Ausübung politischer Rechte
durch die Bürger vorbereiten und erleichtern.

1) Die Literatur über das philosphische Staatsrecht des Rechtsstaates
ist höchst ausgedehnt, namentlich deßhalb, weil von einer nur allzu großen
Anzahl von Schriftstellern das philosophische Staatsrecht überhaupt nur auf
dieser Grundlage anerkannt und bearbeitet ist. Die Mehrzahl aller neuern
politischen Schriften, und zwar sämmtlicher Culturvölker, ist rechtsstaatlichen
Inhaltes, auch wo sich die Verfasser dieser Richtung nicht bewußt sind. Vgl.
oben, § 24, S. 127; und, ausführlicher, meine Geschichte und Literatur
der Staatswissenschaften, Bd. I, S. 215 u. ff.

Staatsgattung herbeizuführen im Stande iſt, ſo mag er dafür
auf geſetzlichem Wege wirken; bis dahin aber hat ſich die Min-
derzahl zu fügen, und der ſittliche Grund der abweichenden
Anſicht giebt keine Berechtigung zum Ungehorſam gegen das
beſtehende Geſetz 4). — Siebentens, Recht der Ortsverände-
rung
. Der Bürger eines Rechtsſtaates gehört demſelben nicht
blos an, inſoferne er Mitglied einer beſtimmten Genoſſenſchaft
iſt, ſondern er iſt ein Theil des großen Ganzen, und das
ganze Staatsgebiet iſt ſein Vaterland. Wo er alſo innerhalb
deſſelben ſeine Zwecke am beſten erreichen kann, mag er ſich
aufhalten. Hiermit ſind Beſtimmungen über beſondere Be-
dingungen zur Erwerbung von Korporationsrechten und aus-
nahmsweiſe Vorſchriften über gezwungene Eingrenzung oder
Ausweiſung von Verdächtigen und über Unterſtützung Bedürf-
tiger wohl vereinbar. — Achtens endlich, die Befugniß zur Bil-
dung freiwilliger Vereine zu gemeinſchaftlicher Verfol-
gung erlaubter, d. h. nicht unrechtlicher und nicht gemeinſchäd-
licher Zwecke. Inwieferne auch ſtaatliche Aufgaben durch ſolche
Vereine erſtrebt werden dürfen, hängt von der Verfaſſungsart
ab. Wo das Volk grundſätzlich von der eigenen Theilnahme
an den öffentlichen Angelegenheiten ganz ausgeſchloſſen iſt, da
hätten freiwillige Vereine zur Erlangung eines ſolchen Ein-
fluſſes keinen erlaubten Zweck, und wären im Widerſpruche
mit dem Gedanken der Verfaſſung. Dagegen ſind ſie an der
Stelle, wo und inwieweit ſie die Ausübung politiſcher Rechte
durch die Bürger vorbereiten und erleichtern.

1) Die Literatur über das philoſphiſche Staatsrecht des Rechtsſtaates
iſt höchſt ausgedehnt, namentlich deßhalb, weil von einer nur allzu großen
Anzahl von Schriftſtellern das philoſophiſche Staatsrecht überhaupt nur auf
dieſer Grundlage anerkannt und bearbeitet iſt. Die Mehrzahl aller neuern
politiſchen Schriften, und zwar ſämmtlicher Culturvölker, iſt rechtsſtaatlichen
Inhaltes, auch wo ſich die Verfaſſer dieſer Richtung nicht bewußt ſind. Vgl.
oben, § 24, S. 127; und, ausführlicher, meine Geſchichte und Literatur
der Staatswiſſenſchaften, Bd. I, S. 215 u. ff.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p><pb facs="#f0345" n="331"/>
Staatsgattung herbeizuführen im Stande i&#x017F;t, &#x017F;o mag er dafür<lb/>
auf ge&#x017F;etzlichem Wege wirken; bis dahin aber hat &#x017F;ich die Min-<lb/>
derzahl zu fügen, und der &#x017F;ittliche Grund der abweichenden<lb/>
An&#x017F;icht giebt keine Berechtigung zum Ungehor&#x017F;am gegen das<lb/>
be&#x017F;tehende Ge&#x017F;etz <hi rendition="#sup">4</hi>). &#x2014; Siebentens, Recht der <hi rendition="#g">Ortsverände-<lb/>
rung</hi>. Der Bürger eines Rechts&#x017F;taates gehört dem&#x017F;elben nicht<lb/>
blos an, in&#x017F;oferne er Mitglied einer be&#x017F;timmten Geno&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft<lb/>
i&#x017F;t, &#x017F;ondern er i&#x017F;t ein Theil des großen Ganzen, und das<lb/>
ganze Staatsgebiet i&#x017F;t &#x017F;ein Vaterland. Wo er al&#x017F;o innerhalb<lb/>
de&#x017F;&#x017F;elben &#x017F;eine Zwecke am be&#x017F;ten erreichen kann, mag er &#x017F;ich<lb/>
aufhalten. Hiermit &#x017F;ind Be&#x017F;timmungen über be&#x017F;ondere Be-<lb/>
dingungen zur Erwerbung von Korporationsrechten und aus-<lb/>
nahmswei&#x017F;e Vor&#x017F;chriften über gezwungene Eingrenzung oder<lb/>
Auswei&#x017F;ung von Verdächtigen und über Unter&#x017F;tützung Bedürf-<lb/>
tiger wohl vereinbar. &#x2014; Achtens endlich, die Befugniß zur Bil-<lb/>
dung <hi rendition="#g">freiwilliger Vereine</hi> zu gemein&#x017F;chaftlicher Verfol-<lb/>
gung erlaubter, d. h. nicht unrechtlicher und nicht gemein&#x017F;chäd-<lb/>
licher Zwecke. Inwieferne auch &#x017F;taatliche Aufgaben durch &#x017F;olche<lb/>
Vereine er&#x017F;trebt werden dürfen, hängt von der Verfa&#x017F;&#x017F;ungsart<lb/>
ab. Wo das Volk grund&#x017F;ätzlich von der eigenen Theilnahme<lb/>
an den öffentlichen Angelegenheiten ganz ausge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t, da<lb/>
hätten freiwillige Vereine zur Erlangung eines &#x017F;olchen Ein-<lb/>
flu&#x017F;&#x017F;es keinen erlaubten Zweck, und wären im Wider&#x017F;pruche<lb/>
mit dem Gedanken der Verfa&#x017F;&#x017F;ung. Dagegen &#x017F;ind &#x017F;ie an der<lb/>
Stelle, wo und inwieweit &#x017F;ie die Ausübung politi&#x017F;cher Rechte<lb/>
durch die Bürger vorbereiten und erleichtern.</p><lb/>
                    <note place="end" n="1)">Die Literatur über das philo&#x017F;phi&#x017F;che Staatsrecht des Rechts&#x017F;taates<lb/>
i&#x017F;t höch&#x017F;t ausgedehnt, namentlich deßhalb, weil von einer nur allzu großen<lb/>
Anzahl von Schrift&#x017F;tellern das philo&#x017F;ophi&#x017F;che Staatsrecht überhaupt nur auf<lb/>
die&#x017F;er Grundlage anerkannt und bearbeitet i&#x017F;t. Die Mehrzahl aller neuern<lb/>
politi&#x017F;chen Schriften, und zwar &#x017F;ämmtlicher Culturvölker, i&#x017F;t rechts&#x017F;taatlichen<lb/>
Inhaltes, auch wo &#x017F;ich die Verfa&#x017F;&#x017F;er die&#x017F;er Richtung nicht bewußt &#x017F;ind. Vgl.<lb/>
oben, § 24, S. 127; und, ausführlicher, <hi rendition="#g">meine</hi> Ge&#x017F;chichte und Literatur<lb/>
der Staatswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften, Bd. <hi rendition="#aq">I,</hi> S. 215 u. ff.</note><lb/>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[331/0345] Staatsgattung herbeizuführen im Stande iſt, ſo mag er dafür auf geſetzlichem Wege wirken; bis dahin aber hat ſich die Min- derzahl zu fügen, und der ſittliche Grund der abweichenden Anſicht giebt keine Berechtigung zum Ungehorſam gegen das beſtehende Geſetz 4). — Siebentens, Recht der Ortsverände- rung. Der Bürger eines Rechtsſtaates gehört demſelben nicht blos an, inſoferne er Mitglied einer beſtimmten Genoſſenſchaft iſt, ſondern er iſt ein Theil des großen Ganzen, und das ganze Staatsgebiet iſt ſein Vaterland. Wo er alſo innerhalb deſſelben ſeine Zwecke am beſten erreichen kann, mag er ſich aufhalten. Hiermit ſind Beſtimmungen über beſondere Be- dingungen zur Erwerbung von Korporationsrechten und aus- nahmsweiſe Vorſchriften über gezwungene Eingrenzung oder Ausweiſung von Verdächtigen und über Unterſtützung Bedürf- tiger wohl vereinbar. — Achtens endlich, die Befugniß zur Bil- dung freiwilliger Vereine zu gemeinſchaftlicher Verfol- gung erlaubter, d. h. nicht unrechtlicher und nicht gemeinſchäd- licher Zwecke. Inwieferne auch ſtaatliche Aufgaben durch ſolche Vereine erſtrebt werden dürfen, hängt von der Verfaſſungsart ab. Wo das Volk grundſätzlich von der eigenen Theilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten ganz ausgeſchloſſen iſt, da hätten freiwillige Vereine zur Erlangung eines ſolchen Ein- fluſſes keinen erlaubten Zweck, und wären im Widerſpruche mit dem Gedanken der Verfaſſung. Dagegen ſind ſie an der Stelle, wo und inwieweit ſie die Ausübung politiſcher Rechte durch die Bürger vorbereiten und erleichtern. ¹⁾ Die Literatur über das philoſphiſche Staatsrecht des Rechtsſtaates iſt höchſt ausgedehnt, namentlich deßhalb, weil von einer nur allzu großen Anzahl von Schriftſtellern das philoſophiſche Staatsrecht überhaupt nur auf dieſer Grundlage anerkannt und bearbeitet iſt. Die Mehrzahl aller neuern politiſchen Schriften, und zwar ſämmtlicher Culturvölker, iſt rechtsſtaatlichen Inhaltes, auch wo ſich die Verfaſſer dieſer Richtung nicht bewußt ſind. Vgl. oben, § 24, S. 127; und, ausführlicher, meine Geſchichte und Literatur der Staatswiſſenſchaften, Bd. I, S. 215 u. ff.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/345
Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/345>, abgerufen am 24.11.2024.